Ausstellung «Welt aus den Fugen»
Kunst Museum Winterthur, vom 21.5. bis 14.8.2022

 

Die Welt gerät aus den Fugen
– die Kunst auch?


Es ist schwer verdauliche Kost, die der Besucher
hier vorgesetzt bekommt. Die elf KünstlerInnen haben sich aber auch eine denkbar schwierige Aufgabe gestellt. Sie befassen sich mit den ganz heissen Problemen dieser Welt und versuchen, diese in Kunst umzuwandeln. Es geht um Ausbeutung des Planeten, Klimaveränderung, künstliche Intelligenz, Migration, Digitalisierung, Krypto-Evolution und so weiter...

 

 

Ausstellungsplakat

 

 

 

Installationen haben sich ab den 1960er-Jahren zu einer eigenen Kunstgattung entwickelt. Sie umfassen neben «Handfestem» auch Film, Video, Sound und Licht, manchmal sogar Gerüche. Durch die Verwendung neuer digitaler Medien haben sie an Komplexität noch dazu gewonnen.

 

Und wenn dann das Thema auch noch «Welt aus den Fugen» heisst, macht das die Sache nicht einfacher.

 

Typisch für die meisten Kunstinstallationen ist, dass sie nicht self-explaining sind. Nur selten erkennt man auf Anhieb Idee oder Aussage der Künstler, die hinter solchen Aufbauten stecken. In der Winterthurer Ausstellung ist das nicht anders: Es braucht schon einiges an Grund-Erläuterungen der Künstler und/oder Kuratoren, um die Werke auch nur ansatzweise zu verstehen oder gar richtig zu deuten. Hier ein Versuch.

 

 

 

 

 

Titelbild

Simon Denny (1982). Games of
Decantralized Life (Spiele des
dezentralisierten Lebens), 2018.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ed Atkins (1982). Old Food, 2017.

 

 

 

Ed Atkins (1982)

 

Der Künstler arbeitet mit computergesteuerten Bildern. Es geht um die Frage, wie die digitale Welt das Gefühlsleben der Zukunft verändern wird und ob zum Beispiel ein (digital erschaffenes) schluchzendes Baby reale Emotionen auslösen kann. Auch

theatralische Videos mit Avataren sollen bei den Besuchern real-menschliche Gefühlausbrüche auslösen. Erfolg fraglich.

 

In «Old Food» (Titel der Installation) will der Künstler darauf hinweisen, dass Lebensmittel nicht virtuell eingenommen werden können. Zu diesem Thema präsentiert er einen Horrorfilm, in dem Menschen zum Sandwich zubereitet werden.

 

 

Lizzie Fitch (1981) Ryan Trecartin (1981). Auto View (Sibling Topics), 2011.

 

Lizzie Fitch und Ryan Trecartin (1981)

 

Aus Fitnessgeräten und Flugzeugsesseln arrangiert das Künstlerduo einen unheimlichen Zuschauerraum, der zu einer bedrohlichen Folterkammer wird. Auf einer Leinwand sind Videofilme und rasante Bilder zu sehen, die zunächst ohne erkennbaren Zusammenhang daher kommen. Thema ist die Identitätsfindung und die Selbstbestimmung junger Menschen sowie das Überschreiten gesellschaftlicher Normen. Nicht diese Überschreitungen seien pervers, sondern der rigide Puritanimus, lautet die Message.

 

 

Simon Denny (1982). Games of Decantralized Life, 2018.

 

Simon Denny (1982)

 

Die Installation heisst «Spiele des dezentralisierten Lebens». Als Grundlage dient das «Spiel des Lebens» – das weltberühmte Brettspiel «Monopoly», bei dem es darum geht, finanzstrategisch zu denken und möglichst viel Geld zu scheffeln.

 

Der Künstler erweitert die Dimension durch einen Bitcoin-Computer, der in der Ausstellung selbst damit beschäftigt ist, Kryptogeld zu schürfen – vorbei an herkömmlichen Währungen und Banken. Simon Denny stellt damit die Frage in den Raum, wer künftig die Ressourcen in der Hand halten und so das «Spiel des Lebens» steuern wird.

 

 

Sung Tieu (1987). Zugzwang, 2020.

 

Sung Tieu (1987)

 

Mit ihrem Werk «Zugzwang» geht die Künstlerin auf die Problematik der Migration ein. An den Wänden ist eine unüberblickbare Menge von Asylformularen aufgehängt, in der Mitte des Raumes stehen funktionelle Möbel, wie sie in Asylzentren und Gefängnissen verwendet werden: Stabil, glatt, abwaschbar und charakterlos. In den Gestellen finden sich persönliche Gegenstände der «Insassen» und das unbesetzte schwarze Pult symbolisiert den Überwachungsstaat.

 

 

Pamela Rosenkranz (1979). Anamazon (Green, Blue, Green), 2017.

 

Pamela Rosenkranz (1979)

 

Mit ihrer Installation weist sie auf den kränkelnden Regenwald im Amazonas hin, der als die «Lunge der Welt» gilt und immer mehr abgeholzt wird. Die Künstlerin hat einen Raum mit LED-Lichtern geschaffen, der in giftigem Grün erstrahlt. Wasser tropft aus einem Infusionsbeutel auf den Boden. Dazu lässt sie Urwald-Geräusche ab Tonspur einspielen – sinnigerweise über einen Lautsprecher, den sie von Amazon gekauft hat, einer Firma, die mit ihrem Businessmodell die Ressourcen der Welt überstrapaziert. Es ist ein grell leuchtender Protest gegen den Missbrauch der Natur.

 

 

Fabien Giraud (1980) und Raphaël Siboni (1981). The Everted Capital
(-585-2022), 2022.

 

Fabien Giraud (1980), Raphaël Siboni (1981)

 

Zur Ausstellung gehört eine Performance mit SchauspielerInnen. In der skulpturalen Installation hinterlassen diese Spuren ihrer Existenz und ihrer Vergänglichkeit. Eigentlich geht es aber um Gott und um die Frage, ob Gott das Vorbild für die Geburt von künstlicher Intelligenz ist. Das Künstlerduo sinniert in einer Versuchsanordnung auch über die Eigenheiten des menschlichen Lebens. Am Ende wird sogar ein Kind geboren. Die Aussage: In der Natur ist alles dem Zyklus von Werden und Vergehen untergeordnet – deshalb kann auch kein Gott ewig sein.

 

 

Raphaela Vogel (1988).
Fuge meam propinquitatem!, 2020.

 

 

Raphaela Vogel (1988)

 

Eine Installation, die Widersprüche inszenieren soll. Da gibt es einen Weidenbaum, der in Europa mit düsteren Legenden verbunden ist, währenddem er in Asien als Symbol weiblicher Anmut gilt. Darunter hängt ein sich im Kreis drehendes weibliches Skelett, dessen Funktion unklar bleibt. Zur Installation gehört auch ein Video, in dem lateinischer Text gelesen wird. Warum Latein? Es ist die Sprache der Wissenschaft. Es soll sich um eine kritische Betrachtung der Lehre der antiken Atomisten handeln, die davon ausgingen, dass die Welt aus unsichtbaren Teilchen besteht. Immerhin lässt sich der lateinische Titel der Installation «Fuge meam propinquitatem» übersetzen: Der Google-Translator liefert dazu den deutschen Text «Fliehe aus meiner Nähe». Viel weiter bringt uns das aber auch nicht.

 

 

Julian Charrière (1987). An invitation to disappear, 2018.

 

 

 

Julian Charrière (1987)

 

Früher war es die Natur selbst, die sich zerstörte. So wie der Vulkan Tambora auf Indonesien, der 1815 so viel Asche in die Atmosphäre schleuderte, dass auch im Jahr danach die Sonne nicht mehr schien. Heute sind es die Menschen, die mit globalem Handel, zerstörerischen Monokulturen und Profitmaximierung Raubbau an der Natur betreiben. Die Videoshow, die man auf Luftmatratzen am Boden liegend verfolgen kann, kommt wie eine ekstatische Discoparty daher. Von romantischem Grillengezirpe im Dschungel bis zu apokalyptischer Sonnenverfinsterung.

 

 

Anne Imhof (1978). Room IV, 2021.

 

Anne Imhof (1978)

 

Worum geht es bei diesem «Room IV»? An der gläsernen Rückwand sind Graffitis angebracht. Bevor diese zu einer Kunstform wurden, dienten sie den «Gangs» dazu, ihr Revier abzustecken und damit ihre Macht auszudrücken. Imhofs Raum symbolisiert auch ein Revier: das von Jugendlichen, die sich von der Erwachsenenwelt abschotten wollen und sich in ihre Probekeller zurückziehen, um dort «ihr eigenes Ding zu drehen». Dafür stehen Matratze, Gitarre und Verstärkerbox.