Ausstellung «Brasil – Aufbruch in die Moderne»
Paul Klee Zentrum Bern, 7.9.24 bis 5.1.2025.
Denkt man an Kunst, wenn es um Brasilien geht?
Wohl eher nicht als Erstes, dafür an Rios Karneval, an Bossa Nova oder Fussball. Doch nach dem Besuch der Brasil-Ausstellung in Bern kann man das durchaus anders sehen – und dabei staunen. Sie ist ein echter Augenöffner.
Ausstellungsplakat
Erst 1889 erhielt die Republik Brasilien ihre erste Verfassung. Beständig war diese allerdings nicht. Bis ins 20. Jahrhundert war sie gefährdet. 1964, nach dem Militärputsch, wurde das Land sogar zur Diktatur. Nach deren Fall 1985 begann ein langer Prozess, der endlich in die Re-Demokratisierung führte.
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Vor 1922 herrschte in der brasilianischen Kunst ein
stark akademischer und konservativer Stil vor, der sich hauptsächlich an portugiesischen Vorbildern orientierte. Die erste brasilianische Akademie der Künste war um 1800 vom portugiesischen König João VI gegründet worden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts regierte der Neoklassizismus, gegen Ende des Jahrhunderts gewann dann der Realismus an Bedeutung.
Eine eigenständige brasilianische Kunst war bis 1900 nicht in Sicht. Die wohlhabende Bürgerschicht orientierte sich an der ausländischen Kunst.
Die «Woche der modernen Kunst» von 1922 in
São Paulo
markierte einen radikalen Bruch mit akademischen Traditionen. Sie leitete eine neue Ära ein, in der brasilianische Künstler begannen, eine eigene moderne Ausdrucksweise zu entwickeln, angelehnt an die europäische Avantgarde.
Candido Portinari (1903-1962).
Junge mit Widder, 1941. Fundação
Edson Queiroz, Fortaleza.
Flavio de Carvalho (1899-1973).
Entwurf für Miss Brasilien, 1931.
Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga.
Die Semana de Arte Moderna fand im Februar 1922 im Theatro Municipal von São Paulo statt. Dieses Datum wurde bewusst gewählt, da es mit dem 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Brasiliens zusammenfiel, der Proklamation der Republik von 1822. In dieser «Kunst-Woche» ging es nicht nur um bildende Kunst, sondern auch um Musik, Tanz, Poesie.
Zu den Protagonisten der «Bildenden» gehörten die Maler:innen Anita Malfatti, Tarsila do Amaral, Lasar Segall, Alfredo Volpi, Vicente do Rego Monteiro, Flávio de Carvalho, Candido Portinari und Djanira da Motta e Silva, die – unter anderen – an der Ausstellung in Bern zu sehen sind.
Alfredo Volpi (1896-1988).
Frau aus Bahia, 1930. Museu de
Arte Brasileira, São Paulo.
Die Ausstellung wurde organisiert vom Zentrum Paul Klee, Bern, in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Arts, London, wo die Ausstellung vom 28. Januar bis
21. April 2025 zu sehen ist.
Titelbild: Die idyllische Favela-Utopie der
Tarsila do Amaral (1886-1973). Favela-Hügel,
1924. Sammlung Hecilda e Sergio Fadel.
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Anita Malfatti (1889-1964)
Anita Malfatti (1889-1964). Eine Chinesin, 1922. Coleção Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga.
Anita Malfatti (1889-1964). Erster kubistischer Akt, 1916. Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga.
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Anita Malfatti (1889-1964)
Eine Pionierin der modernen Kunst Brasiliens. Sie macht bereits 1917 mit expressionistischen Gemälden auf sich aufmerksam. Diese stossen aber bei den Kritikern in São Paulo auf Unverständnis.
Anita Malfatti hat einen italienischen Vater und eine US-amerikanische Mutter. Ihre Jugend verbringt sie in São Paulo.
Von 1910 bis 1914 erhält sie ihre künstlerische Ausbildung in Berlin. In Deutschland ist der Expressionismus gerade in Mode. Sie studiert die Werke der europäischen Avantgarde, vor allem des Futurismus und des Kubismus.
Zurück in São Paulo zeigt sie 1917 ihre Werke in einer Einzelausstellung. Die expressionistischen und kubistischen Werke lösen grosse Kontroversen aus. Die konservativen Kritiker lehnen sie ab, die avantgardistischen hingegen feiern Malfatti bald als Vorbild der brasilianischen Moderne.
Sie ist eine der Protagonistinnen der «Semana de Arte Moderna», die 1922 in São Paulo ausgetragen wird. Diese Ausstellung markiert einen radikalen Bruch mit akademischen Traditionen.
Als Malfatti dann 1923 dank eines Stipendiums nach Paris reisen kann, findet sie plötzlich Gefallen an den klassischen Traditionen. Zurück in São Paulo (1928) beginnt sie, ihren Stil zu verändern. Nun orientiert sie sich an den alten Meistern der italienischen Malerei. Bei ihren avantgardistischen Kollegen stösst das auf Unverständnis.
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Vicente do Rego Monteiro (1899-1970).
Vicente do Rego Monteiro (1899-1970). Sitzende Frau, 1924. Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga.
Vicente do Rego Monteiro (1899-1970). Kreuzigung, 1922. Kollektion Gilberto Chateaubriand.
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Vicente do Rego Monteiro (1899-1970)
Er ist Künstler und Schriftsteller. Als einer der ersten beschäftigt er sich mit den indigenen Kulturen Brasiliens.
Vicente do Rego Monteiro stammt aus einer wohlhabenden Familie im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco. Bereits als Zwölfjähriger begleitet er seine ältere Schwester nach Paris, wo er in verschiedenen privaten Akademien studiert. 1917 lässt er sich in Rio de Janeiro und in Recife nieder.
Er interessiert sich für die Indigenen, hat aber keinen direkten Kontakt zu ihnen. Besonders die Keramiken des präkolumbianischen Marajoara-Volkes aus dem Amazonasgebiet fazinieren ihn. Das hinterlässt Spuren in seinen Darstellungen reliefartiger Figuren in erdiger Farbigkeit und stark reduziert auf einfache Formen.
Seine Teilnahme an der «Semana de Arte Moderna» in São Paulo im Jahr 1922 macht ihn als Vorreiter der brasilianischen Moderne bekannt.
1923 illustriert er einen Sammelband mit mythologischen Geschichten der Tupi und der Tapuia, zweier brasilianischer Ethnien, die er als Ursprung indigenen Denkens erachtet. Das Werk heisst «Legenden, Glaube und Talismane der Indigenen im Amazonasgebiet». In diesem Zusammenhang entstehen abstrakte Gemälde, die Formen der Tupi und Tapuia aufgreifen.
Ab 1923 bis zu seinem Tod verbringt der Künstler längere Zeit in Paris. Es entstehen auch Arbeiten mit alltäglichen und christlichen Themen.
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Tarsila do Amaral (1886-1973).
Tarsila do Amaral (1886-1973). Der See, 1928. Hecilda e Sergio Fadel.
Tarsila do Amaral (1886-1973). Ortschaft, 1952. Kollektion Airton Queiroz, Fortaleza.
Tarsila do Amaral (1886-1973). Der Markt II, 1925.
Tarsila do Amaral (1886-1973). Ländlicher Tanz, 1950-61. Stiftung Edson Queiroz, Fortaleza.
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Tarsila do Amaral (1886-1973).
Ihre Familie besitzt eine Kaffeeplantage. Tarsila darf in São Paulo Kunst studieren und dann 1920 in Paris ihre Ausbildung fortsetzen. Dort macht sie sich mit den modernen Kunstrichtungen vertraut und kehrt 1922, kurz nach der «Semana de Arte Moderna», nach São Paulo zurück.
Dort lernt sie den Schriftsteller Oswald de Andrade (1890-1954) kennen. Die beiden werden in den 1920er Jahren zu einem der einflussreichsten Künstlerpaare Brasiliens und sind Schlüsselfiguren der brasilianischen Moderne. Von 1926 bis 1929 sind Tarsila und Oswald verheiratet.
begründen zusammen die anthropophagische Bewegung in der brasilianischen Kunst.
Was bedeutet antropophagisch? Wörtlich übersetzt: «Menschenfressend». Oswald de Andrade formulierte das Prinzip so: «Statt das Fremde wegzuschieben, das Fremde fressen», heisst: Offensein gegenüber fremden Einflüssen und sich mit diesen kritisch auseinander setzen. Und daraus einen brasilianischen Stil entwickeln.
Mit Oswald de Andrade reist sie nach Paris, wo sie ihre brasilianische Identität zelebriert. Sie lädt Picasso, Léger und de Chirico zu brasilianischen Abendessen ein und malt exotische Gemälde.
Ihre Werke kommen in naivem Stil daher, sind dabei aber auch surrealistisch – denn do Amaral stellt die kurz zuvor noch auf Plantagen versklavte Bevölkerung, die nun in Armut in den Favelas lebt, realitätsfremd in idyllischen Utopien dar. Dabei gibt sie sich der Illusion hin, so die brasilianische Identität darstellen zu können. Und hofft so, sich ihrem Volk «anzunähern».
Beim Börsencrash 1929 verliert sie ihr Vermögen. In den 1930er Jahren verändert sich do Amarals Kunst dann fundamental: Entsprechend der politischen und gesellschaftlichen Situation des >Estado Novo (1937) nach der Revolution 1930 entscheidet sie sich für einen realistischeren Stil und behandelt auch Alltagsthemen und Soziales.
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Djanira da Motta e Silva (1914-1979).
Djanira da Motta e Silva (1914-1979). Bananenplantage, 1961. Kollektion Leonel Kaz, Rio de Janeiro.
Djanira da Motta e Silva (1914-1979). Junge Caboclos, 1951. Kollektion Leonel Kaz, Rio de Janeiro.
Djanira da Motta e Silva (1914-1979). Marktszene, 1960. Kollektion Vicor Adler.
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Djanira da Motta e Silva (1914-1979)
Sie gilt als Beobachterin des Alltagslebens, die unterschiedliche Kulturen und Facetten Brasiliens erlebt und porträtiert.
Umgeben von anderen Künstlerinnen im Quartier Santa Teresa in Rio de Janeiro beginnt sie in den 1940er Jahren zu malen. Sie porträtiert ihre Nachbarn und sich selbst. Als sie ihre Gemälde 1943 zum ersten Mal ausstellt, wird ihr Werk von anderen Künstlern wie Portinari und Segall gelobt.
Die Kunstbegriffe «naiv» oder «primitiv» empfindet sie beleidigend und lehnt sie vehement ab. Sie findet, sie brauche diese reduzierte künstlerische Sprache, um die sozialen Ungleichheiten zu kommentieren.
Ab den 1950er Jahren zeigt sie vermehrt Interesse an Quellen der Volkskultur. Die Künstlerin arbeitet 1954 und 1955 einige Monate in Salvador de Bahia. Dort studiert sie die afrobrasilianische Kultur, die sie als ein grundlegendes Element der Identität des Landes versteht.
Afrobrasilianische religiöse Rituale, insbesondere die Darstellung von Candomblé-Orishas (Gottheiten) dienen ihr als Motiv.
Von der «ersten Generation» der modernen Künstler unterscheidet sie sich insofern, als sie selbst im Umfeld der Kulturen lebt, die sie malt.
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Lasar Segall
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Lasar Segall (1889-1957)
Segall ist jüdischer Abstammung. Als junger Mann verlässt er seine litauische Heimat und studiert in Berlin. Dort setzt er sich mit dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit auseinander. Dann flüchtet er vor dem Kriegselend in Europa und zieht nach Brasilien.
1923 entscheidet sich Segall, definitiv nach Brasilien auszuwandern. Dort kommt er schnell mit der brasilianischen Avantgarde in Kontakt und nimmt die Vorstellung der brasilianischen Moderne in seine Werke auf.
Vor allem Darstellungen indigener oder afrobrasilianischer Menschen gehören zu seinen Motiven. Aber auch die üppige tropische Pflanzenwelt Brasiliens fasziniert ihn.
Im Laufe der 1930er Jahre setzt sich Segall mit den Verfolgungen, Flüchtlingsschicksalen und der allgemein katastrophalen Situation in Europa auseinander. 1937 werden einige seiner Werke von den Nazis aus deutschen Museen verbannt und in der Ausstellung >Entartete Kunst in München 1937 diffamiert.
Seine kräftigen Farben der 1920er-Jahre weichen ab den 1930er-Jahren Braun- und Grautönen. Er malt jetzt auch Pogrom-Szenen. Die Tatsache, dass auch in Brasilien die Nazi-Rhetorik teilweise übernommen wird, erschüttert den Künstler. Auch hier wird er oft als «entarteter» Maler verunglimpft.
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Werke in der Ausstellung Brasil 2024 im Paul Klee Zentrum Bern
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