Doris Salcedo (1958)

 

Wie setzt man Schmerz, Verlust und Trauer in Kunst um? Die Kolumbianerin liefert Antworten, wie man sie noch nicht gesehen hat. Gestützt auf ihre persönliche Lebensgeschichte und auf Ekzesse von Gewalt und Unterdrückung in ihrem Land verarbeitet sie Alltagsgegenstände zu Installationen, die an Massaker, Folterung, Verschleppung, Tod und Trauer erinnern sollen.

 

 

Doris Salcedo um 2015. Foto©
Fondation Beyeler, Riehen-Basel

 

 

Doris Salcedo kommt 1958 in Bogotà, Kolumbien, zur Welt. Dort studiert sie Malerei und Kunstgeschichte an der Universität Jorge Tadeo Lozano und macht 1980 den Bachelor of Fine Arts, vier Jahre später dann den Master of Fine Arts an der New York University.

 

1985 kehrt sie nach Kolumbien zurück und lernt auf ihren Reisen im eigenen Land Überlebende und Angehörige von Opfern brutaler Gewalt kennen. Hier sensibilisiert sie sich für die Themen Krieg, Entfremdung, Unterdrückung, Folter, Heimatverlust und Migration.

 

Mit ihren aufwühlenden Werken sorgt Salcedo international für Aufsehen. 2003 füllt sie an der Biennale Istanbul eine «Häuserlücke» mit 1500 Holzstühlen – um auf die Vertreibung von armenischen und jüdischen Familien hinzuweisen. 2007 besteht ihre Installation aus einem grossen Riss durch den Boden der «Turbine Hall» der Tate Modern in London – und macht damit die Ausgrenzung sichtbar.


Salcedos Werke befinden sich in Sammlungen renommierter Museen wie dem MoMA in New York, dem Museum of Contemporary Art Chicago oder der Tate Modern in London.

 

Nun widmet ihr die Fondation Beyeler ihre erste Museumsausstellung in der Schweiz. Vom
21. Mai bis 17. September 2023.

 

 


21.5. bis 17.9.2023

Fondation Beyeler Riehen-Basel

 

 

Doris Salcedo arbeitet mit einer Fülle von Materialien. Diese bringt sie in ungewohnte Verbindungen wie Möbel/Beton oder Holz/Menschenhaare. Mit all ihren Installationen verfolgt sie das Ziel, Gewalt, Unterdrückung, Trauer und Schmerz sichtbar zu machen.

 

Nebenbei bemerkt: Die Einrichtung der Ausstellung muss mit einem gewaltigen logistischen Kraftakt verbunden gewesen sein! Da waren nicht – wie bei normalen Ausstellungen – ein paar Dutzend Gemälde zu verschieben, sondern tonnenweise Möbel samt Betonblöcken, die aus überseeischen Museen in die Schweiz gekarrt werden mussten. Ein Riesenaufwand!


 

 

 

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Titelbild (Ausschnitt)
Doris Salcedo (1958).

A Flor de Piel II, 2013-14.

Rosenblätter-Teppich.

Daskalopoulos Collection.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Doris Salcedo (1958). Untitled, 1989-2014. Bettgestelle.

 

Doris Salcedo (1958). Untitled, 1989-2014. Baumwollhemden, Gips.

 

 

Erinnerungen an die Massaker

 

Kolumbianische Militär- und Guerillagruppen haben in der Zivilbevölkerung während Jahrzehnten Massaker verübt. Das Werk «Untitled» bezieht sich auf das Urabá-Massaker von 1988, bei dem Paramilitärs in einer Bananenplantage ungezählte Arbeiter ermordeten.

 

Die Installation besteht aus metallenen Bettgestellen und weissen Hemden, die an die Schmerzen in einem Lazarett erinnern. Die Bettgestelle sind mit tierischen Häuten und Verbandsmaterial umwickelt.

 

Die fein säuberlich zusammengelegten und gestapelten Hemden sind mit Gips versteift und von Metallstangen durchbohrt – eine symbolische Geste der Gewalt an den (im Werk fehlenden) menschlichen Körpern.

 

Worauf die Künstlerin mit den Hemdstapeln auch noch hinweisen will: Einzelschicksale werden ausgeblendet, die Ermordeten werden ihrer Individualität beraubt, sie sind jetzt uniform, anonym und austauschbar.

 

 

Doris Salcedo (1958). A Flor de Piel II, 2013-14. Teppich aus Rosenblättern. Daskalopoulos Collection.

 

Doris Salcedo (1958). A Flor de Piel II, 2013-14. Detail.

 

In Gedenken an die «Verschwundenen»

 

Hintergrund für diese Arbeit ist das Verschwindenlassen von Menschen, die desaparición forzada. Ein Mittel, das immer wieder zur Einschüchterung der Bevölkerung eingesetzt wird. Seit 1964 sollen in Kolumbien gemäss offiziellen Angaben rund 80-100'000 Personen «verschwunden» sein. Das Werk «A Flor de Piel» ist einer Krankenschwester gewidmet, die entführt und zu Tode gefoltert wurde.

 

Es ist ein Teppich aus Rosenblüten, Blüte um Blüte akribisch zusammengenäht mit chirurgischem Faden, danach chemisch konserviert. Nun leuchten die Blätter in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Und sind so verletzlich, dass sie bei Berührung reissen – ein Bild für die Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins.


Der Titel «A Flor de Piel» geht auf einen spanischen Ausdruck zurück, der die Reaktion auf eine emotional überwältigende Situation beschreibt, vergleichbar der Wendung «unter die Haut gehen».

 

 

Doris Salcedo (1958). Atrabiliarios,
1992-2004. San Francisco Museum of Modern Art.

 

Gipswände mit eingelassenen Schuhen

 

Die Gipswand enthält eine Reihe von Nischen, über die Häute gespannt sind. Nur schemenhaft ist der Inhalt zu erkennen: Schuhe, paarweise und einzeln. Die Schuhe stehen stellvertretend für Menschen. Es sind Spuren von Personen, deren Fuss sie einst formte. Als Einzelstück versinnbildlicht der Schuh den Verlust seiner Trägerin.

 

Der Titel der Serie Atrabiliarios leitet sich vom lateinischen «atra bilis» ab, das die Melancholie benennt, die mit dem Trauern verbunden ist. Und woher stammen die Schuhe? Salcedo hat sie über Jahre hinweg von verschwundenen Menschen gesammelt.


 

Doris Salcedo (1958). Unland, irreversible witness, 1995-1998. San Francisco Museum of Modern Art.

 

Detail.

 

Mit Menschenhaar bedeckte Tische

 

Drei lange Holztische stehen in leerem Raum. Auf den ersten Blick einfache Tische – doch bei näherer Betrachtung erkennt man, dass sie mit menschlichem Haar bedeckt sind (siehe Detailbild). Nicht auszumalen, wie viel Arbeit damit verbunden war, jedes einzelne Haar zu platzieren und zu befestigen.


Hintergrund ist ein Gedicht des ukrainischen Lyrikers
Paul Celan (1920-1970). Bekannt ist dieser vor allem für die Verarbeitung von Grenzerfahrungen, insbesondere des Holocausts. Das Werk bezieht sich auf die emotionale Verbindung zwischen Lebenden und Toten. Die Entstehung der Skulptur selbst wurzelt in Doris Salcedos Begegnung mit einem Waisenkind, das den Mord an seinen Eltern während des Bürgerkriegs in Kolumbien miterleben musste.

 

 

Doris Salcedo (1958). Untitled 1989-2008, Holzmöbel, Beton. Institute of Contemporary Art, Boston.

 

 

Für ewig in Beton erstarrte Möbel

 

Ziemlich verstörend wirkt diese Ansammlung von Möbeln, die aus ihren gewohnten Anordnungen herausgerissen sind und eine Nutzung unmöglich machen. Ineinander geschoben und die Hohlräume mit Beton gefüllt.

 

Einige bergen auch Kleider, die einst getragen wurden und nun für ewig erstarrt sind. Nun sind es nur noch vage Erinnerungen an jene Menschen, die nie wieder auf den Stühlen sitzen oder diese Kästen benützen.

 

 

Doris Salcedo (1958). Disremembered X, 2020-21. Nähnadeln und Seidenfaden. Glenstone Museum, Potomac Maryland.

 

 

Feine Blusen mit Nadeln bespickt

 

An den Wänden hängen transparente Blusen aus locker gewebtem Seidenfaden. Bei genauerem Hinsehen erkennt man Tausende von Nadeln, die in den Stoff eingearbeitet sind.


Der Titel Disremembered hilft einem, die Aussage des Werkes zu verstehen: Es geht hier um Menschen, an die man sich nicht erinnert (oder vergisst). Hintergrund ist Salcedos Auseinandersetzung mit der Trauer und der Qual von Müttern aus Chicago, die ihr einziges Kind durch Waffengewalt verloren haben. Täglich an ihren schmerzhaften Verlust erinnert, erfahren sie häufig Unverständnis in einer Gesellschaft, die gerne vergisst und sich mehr nach Vergnügen sehnt.

 

 

Doris Salcedo (1958). Palimpsest, 2013-2017.

 

 

 

Namen, die niemand kennt.


Im grössten Saal der Ausstellung herrscht Leere. Beim Betreten fällt der Blick auf den Boden – es sind Steinplatten. Auf diesen zeichnen sich mit Sand geschriebene Namen ab.

 

Der Titel Palimpsest bezieht sich auf das Schreiben von Text auf Tierhäuten – vor der Erfindung des Papiers.
Die Installation Palimpsest ist den Menschen gewidmet, die auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa
bei der Flucht über das Meer ihr Leben verloren haben.

 

Das Werk ermöglicht ein Gedenken, das ihnen sonst verwehrt bliebe, weil ihre Leben in Europa nicht zählen und ihre Namen nirgends verzeichnet sind. Die Künstlerin hat diese Namen über Jahre recherchiert und gibt ihnen damit eine Art Existenz.

 

 

Doris Salcedo (1958). Plegaria Muda, 2008-2010. MAXXI Roma,
CAM Lisboa.

 

 

 

 

Ein Fünkchen Hoffnung

 

Eine raumfüllende Installation von auf den Kopf gestellten Tischen, die an Särge und in ihrer Anordnung an ein Gräberfeld erinnern. Der Titel Plegaria Muda (stummes Gebet) verweist auf jugendliche Opfer tödlicher Gewalt bei Konflikten zwischen Gangs in Los Angeles und auf eine Mordserie der kolumbianischen Armee an vermeintlichen Guerillakämpfern. Auf eine Nennung von Namen wird bewusst verzichtet. Salcedo spricht damit die Anonymität von Massengräbern an. Durch die Platzierung von zarten Pflänzchen in den «Särgen» erinnert sie aber daran, dass sogar an den schlimmsten Orten des Grauens neues Leben entstehen kann.