Heinrich Pestalozzi (1746-1827)


«Ich bin doch kein Pestalozzi» ist eine geläufige
Ausrede moderner Zeitgenossen, wenn sie klar machen wollen, dass sie nichts zu verschenken haben und nichts spenden wollen. Auf einen solchen Satz wäre der Menschenfreund Pestalozzi wohl nie gekommen.

 

 

Heinrich Pestalozzi um 1806. Von

Francisco Javier Ramos (1746-1817).

Real Academia de Bellas Artes, Madrid.

 

 

Pestalozzi umgibt ein Mythos als Wohltäter, als Kinderfreund und als Erzieher, der ganz neue und teils sonderbare Schulreformen propagierte, viele seiner Ziele nicht erreichte und aus ökonomischer Sicht immer wieder scheiterte. Wer war Pestalozzi wirklich?

 

Johann Heinrich Pestalozzi wird am 12. Januar 1746 in Zürich geboren. Sein Vater ist der Chirurg Johann Baptist Pestalozzi, sein Grossvater ist Pfarrer in Höngg.

 

Von 1751 bis 1765 besucht Pestalozzi die Elementar-
und Lateinschule. Dann studiert er Theologie und Jurisprudenz am Collegium Carolinum in Zürich. Dort trifft er auf den Aufklärer Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Dieser beeinflusst ihn zwar stark mit seinen Theorien, aber Pestalozzi möchte eher praktisch tätig sein – am liebsten als Bauer. Also bricht er sein Studium ab und beginnt eine landwirtschaftliche Lehre in Kirchberg BE.

 

Im aargauischen Birr versucht er sich dann ab 1769 auf seinem Neuhof als Bauer und «landwirtschaftlichen Unternehmer», führt neue Pflanzen und neue Düngemethoden ein, scheitert aber letztlich mit seinem Unternehmen.

 

1769 heiratet er die 8 Jahre ältere >Anna Schulthess, Tochter eines wohlhabenden Zürcher Drogisten und Zuckerbäckers. 1770 kommt ihr Sohn Hans Jakob (Jean-Jacques) zur Welt. Pestalozzi gibt ihm diesen Namen, weil er ein Anhänger der aufklärerischen Pädagogik des >Jean-Jacques Rousseau ist. Nun soll «Jakobli» nach Rousseaus progressiven Ideen erzogen werden. Dieser Versuch einer «idealen Kindererziehung» scheitert tragisch. Jakobli schafft es nicht, die Vorgaben seines gestrengen Vaters zu erfüllen – er hätte schon als Dreijähriger Zahlen und Buchstaben lernen sollen. Schreiben und Lesen kann er aber auch als Elfjähriger noch nicht. Es kommt noch schlimmer. Hans Jakob wird schwer krank und leidet unter epileptischen Anfällen.

 

Das Erziehungsfiasko mit Jakobli hält das Ehepaar Pestalozzi nicht davon ab, fremde Kinder auf ihrem Landgut Neuhof in Birr AG aufzunehmen. Mit vierzig Jugendlichen will Pestalozzi eine «Erziehungsanstalt für arme Kinder» aufbauen, in der die Zöglinge Spinnen und Weben lernen und gleichzeitig Schulunterricht und eine sittlich-religiöse Erziehung bekommen. Die Einrichtung soll aus dem Verkauf der produzierten Textilprodukte finanziert werden. Das gelingt aber nicht. Die Pestalozzis geraten in Schulden und müssen die Anstalt 1779 schliessen. Ein weiterer Misserfolg.

 

 

 

In den folgenden zwei Jahrzehnten (ab 1780) wendet sich Pestalozzi der Schriftstellerei zu und wird mit seinem Roman «Lienhard und Gertrud» europaweit berühmt. Es folgen zahlreiche weitere Werke, darunter «Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts» im Jahr 1797.

>Werke Übersicht

 

1798 marschieren französische Truppen in die Schweiz ein und verursachen in der Innerschweiz Tod und Leid, verwüsten ganze Dörfer und hinterlassen Waisen. Pestalozzi sieht die Chance, seine Erziehungspläne umzusetzen, als ihm der Auftrag erteilt wird, eine Anstalt für verwaiste Kinder in Stans aufzubauen. Das tut er auch, aber das Waisenhaus muss nach einem halben Jahr bereits wieder aufgelöst werden. Pestalozzi ist physisch und psychisch angeschlagen. Er schreibt seine Stanser Erfahrungen nieder: «Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans». Der Brief gilt bis heute als einer der bedeutendsten pädagogischen Texte Pestalozzis.
>mehr über den Stanser Brief

 

1800 gründet er sein Erziehungsinstitut im Schloss Burgdorf BE, wo er eine eigene Unterrichts- und Erziehungsmethode entwickelt und theoretisch begründet. Mit seiner Schrift «Wie Gertrud ihre Kinder lehrt» macht sich Pestalozzi einen Namen als Erzieher und Erneuerer der Volksschule und wird in ganz Europa bekannt. 1803 muss er das Schloss in Burgdorf verlassen, weil es Bern beansprucht – als Amtssitz für den Oberamtmann. Noch ein Tiefschlag.

 

1804 macht sich Pestalozzi an den Aufbau eines neuen Instituts in Yverdon. Es folgt seine «Blütezeit», die von etwa 1807 bis 1815 dauert. Doch finanzielle Probleme und Auseinandersetzungen mit Mitarbeitern verurteilen schliesslich auch dieses Institut zum Scheitern. Es wird 1825 aufgelöst.

 

Nun zieht sich Pestalozzi auf seinen Neuhof in Birr AG zurück. Dort möchte er nochmals eine Armenanstalt aufbauen und beginnt mit dem Bau eines neuen Gebäudes – aber noch vor dessen Vollendung stirbt er am 17. Februar 1827 im Alter von 81 Jahren. Johann Heinrich Pestalozzi ruht in Birr in der Nähe seines Neuhofs.

 

 

 

 

Titelbild (Ausschnitt)

Albert Anker (1831-1910). Länderkinder, 1876.
Musée d'Art et d'Histoire, Neuchâtel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Johann Heinrich Pestalozzi
(1746-1827).

 

 

«Der Mensch muss sich in der Welt selbst forthelfen. Dies ihn zu lehren, ist unsere Aufgabe»

 

 

 

Pestalozzi mit Gattin Anna im Neuhof in Birr AG.

 

 

 

 

«Lernen mit Herz, Hand und Kopf»

 

Pestalozzis berühmter Satz für ein erfolgreiches Lernen. Was meint er damit? Fühlen, Handeln und Denken sollen zu einer Einheit verschmelzen. Die «Herzenskräfte» sind ihm besonders wichtig, wenn es um Erziehung geht. Die Bildung von intellektuellen und handwerklichen Kräften (Kopf und Hand) sind ohne diese Herzenskräfte nicht möglich.

 

Zum Konzept seines Unterrichts gehören nicht nur der schulische Teil, sondern auch die sittlich-religiöse Erziehung. Für Pestalozzi ist die Wohnstube die wichtigste Basis für eine richtige Erziehung. Die Schule muss dann die Wohnstuben-Erziehung weiterführen, auch wenn sie diese nie ganz ersetzen kann. In einigen seiner Ausbildungskonzepte bezieht sich Pestalozzi auch auf den grossen Genfer Philosophen der Aufklärung:

 

>Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)

 

 

Ein weiterer gewichtiger Grundsatz Pestalozzis ist auch die Grundstimmung von Ruhe, die es zum Lernen braucht.

 

In seinem Werk «Schwanengesang»
von 1826 schreibt Pestalozzi:

 

«Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe. Ohne sie verliert die Liebe alle Kraft ihrer Wahrheit und ihres Segens. Die Unruhe ist in ihrem Wesen das Kind sinnlicher Leiden oder sinnlicher Gelüste; sie ist entweder das Kind der bösen Not oder der noch böseren Selbstsucht; in allen Fällen aber ist sie die Mutter der Lieblosigkeit, des Unglaubens und aller Folgen, die ihrer Natur nach aus Lieblosigkeit und Unglauben entspringen».

 

 

Albert Anker (1831-1910). «Länderkinder» oder «Pestalozzi
et les orphelins unterwaldois à Morat», 1876. Musée d'Art et d'Histoire, Neuchâtel.

 

 

Was haben die nidwaldner Waisenkinder mit Murten zu tun? >mehr

 

 

 

 

 

Pestalozzi und die Kunst

 

In einigen Biographien wird Pestalozzi am Satz festgemacht: «Der Mensch wird nur durch die Kunst Mensch». Aber meint er mit «Kunst» das, was man heute darunter versteht? Wohl eher nicht. Er selbst war kein Künstler und auch nicht besonders kunstaffin. Seine Leidenschaft galt vielmehr der Erziehung und der Ausbildung.

 

Dennoch taucht das Wort «Kunst» in allen seinen pädagogischen Schriften auf – aber viel weiter gefasst. Unter Kunst versteht Pestalozzi nämlich das generelle Können.

 

Das wird dann klar, wenn er von «Arzneikunst», von «Armenversorgungskunst» oder von «Redekunst» spricht. So gesehen, lässt sich jede Tätigkeit, die jemand einigermassen gut beherrscht, als «Kunst» bezeichnen.

 

Pestalozzis Kunst-Wortschöpfungen nach diesem Muster haben sich in der Umgangssprache bis heute erhalten. Noch immer spricht man von einem «Kunstfehler», wenn ein Arzt patzt.

 

 

 

Albert Anker (1831-1910). Heinrich Pestalozzi und die Waisenkinder von Stans, 1870. Kunsthaus Zürich.

 

 

Konrad Grob (1828-1904). Pestalozzi bei den Waisenkindern in Stans, 1879. Kunstmuseum Basel.

 

 

 

 

 

 

 

 

1798: Der Waisenvater von Stans

 

Anfangs 1798 fallen die Franzosen in der Schweiz ein, stürzen die Regierung und errichten im April 1798 die >Helvetische Republik. Die fünf Kantone Uri, Schwyz, Nidwalden, Glarus und Zug rebellieren dagegen und wollen an der kantonalen Souveränität (und am Katholizismus) festhalten. Sie stellen ein Heer von rund 10'000 Mann auf, um sich gegen die Franzosen unter General Schauenburg zu verteidigen. Der Kampf ist aber aussichtslos. Im September 1798 müssen sie sich Napoleons Truppen beugen und schliesslich auch in die neue «Helvetische Republik» eintreten.

 

In den Kämpfen sterben rund hundert nidwaldner Soldaten und ebenso viele französische. Auch etwa 300 Zivilisten kommen um, als die Dörfer Ennetmoos, Stansstad, Buochs und Stans verwüstet werden. Das Elend und die Not der Überlebenden ist gross.

 

In diesem Umfeld wird Heinrich Pestalozzi zum gefragten Mann. Man beauftragt ihn mit dem Aufbau und der Leitung einer Anstalt für Waisenkinder in Stans. Nun sieht er seine persönliche Chance gekommen, endlich seine «Volkserziehungspläne» zu verwirklichen. Seine hoch gesteckten Ziele erreicht er aber nicht, denn das Waisenhaus muss nach einem halben Jahr bereits wieder aufgelöst werden.

 

Es ist eine herbe Niederlage für Pestalozzi. Physisch und psychisch angeschlagen, schreibt er seinen berühmten Stanser Brief. In diesem berichtet er ausführlich von den Schwierigkeiten beim Aufbau der Waisenanstalt. An wen der Stanser Brief gerichtet war, ist unklar.

 

>mehr über den Stanser Brief

 

 

Mario Comensoli (1922-1993). Pestalozzi und
die Waisen von Stans, 1952. Privatsammlung.

 

Diese moderne Darstellung Pestalozzis wurde
1953 in einer Einzelausstellung im Helmhaus-Museum in Zürich gezeigt und machte den jungen Tessiner Maler Mario Comensoli einem breiteren Publikum bekannt. >mehr

 

Aufbau der Waisenanstalt von Stans

 

Für Pestalozzi ist es eine Monsteraufgabe. Die Mittel fehlen und die Bevölkerung ist ihm feindlich gesinnt, weil er ein Anhänger der neuen >Helvetischen Republik ist. Und dazu erst noch ein Protestant. Ein wenig Unterstützung bekommt er vom (katholischen) Pfarrer Businger.

 

Schliesslich kann die Waisenanstalt trotz Geldmangels am 14. Januar 1799 eröffnet werden. Nach ein paar Wochen sind es bereits über 80 Kinder, die von Pestalozzi und einer Magd betreut werden sollen. Dennoch ist er entschlossen, seine pädagogischen Ideen, die er in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt hat, nun in die Praxis umzusetzen.

 

Sein berühmter Dreistufenweg mit Fühlen (Herz), Handeln (Hand) und Denken (Kopf) ist aber nur schwer umsetzbar >mehr

 

Schulunterricht wird morgens zwischen sechs und acht Uhr sowie abends zwischen vier und acht Uhr erteilt. Die übrige Zeit ist mit handwerklicher Arbeit ausgefüllt. Pestalozzis Absicht, die praktische (Hand)Arbeit mit elementarem Wissen zu ergänzen, kann nicht umgesetzt werden. Dafür steht ihm viel zu wenig Aufbauzeit zur Verfügung. Nach einem halben Jahr muss er die Räume im ehemaligen Frauenkloster Stans räumen, denn das Militär beansprucht das Gebäude für ein Lazarett. Das Waisenhaus wird aufgelöst.

 

 

Pestalozzi-Denkmal in Yverdon. Foto Roland Zumbühl, WikiCommons.

 

 

 

 

 

 

Von den Sorgen des Waisenhausvaters

 

Auszüge aus dem «Stanser Brief» von
Heinrich Pestalozzi:

 

«Es mangelte am nötigen Geld und an allem (...). Kinder drängten sich herzu, ehe weder Küche noch Zimmer noch Betten für sie in Ordnung sein konnten. (...) Der Dunstkreis war ungesund, schlechtes Wetter schlug noch dazu, und der Mauerstaub, der alle Gänge füllte, vollendete das Unbehagliche des Anfangs. Ich mußte im Anfang die armen Kinder wegen Mangel an Betten des Nachts zum Teil heimschicken. Diese alle kamen dann am Morgen mit Ungeziefer beladen zurück. (...) Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, daß sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln des Mißtrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt; andere vom Elend erdrückt, duldsam, aber mißtrauisch, lieblos und furchtsam. Zwischen hinein einige Zärtlinge, die zum Teil ehemals in einem gemächlichen Zustand lebten; diese waren voll Ansprüche, hielten zusammen, warfen auf die Bettel- und Hausarmenkinder Verachtung. (...) Träge Untätigkeit, Mangel an Übung der Geistesanlagen und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein. Unter zehn Kindern konnte kaum eins das ABC. Von anderem Schulunterricht oder wesentlichen Bildungsmitteln der Erziehung war noch weniger die Rede».

 

Quelle: www.heinrich-pestalozzi.de

 

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