Sigmar Polke (1941-2010)


Polkes Werke sind das Resultat grenzenloser Experimentierfreudigkeit. Bekannt und berühmt ist er für seinen Umgang mit toxischen Farben und Chemikalien, was ihm den Übernamen «Alchemist» eingetragen hat – aber auch für seine ironisch-humoristischen Arbeiten als Maler, Fotograf und Grafiker.

 

 

Sigmar Polke um etwa 2000.
Foto Cornel Wachter, WikiCommons.

 

 

Sigmar Polke kommt 1941 in Oels, Niederschlesien, zur Welt (heute Olesnica, Polen). 1945 wird er mit seiner Familie vertrieben, sie flüchtet nach Thüringen in die DDR und dann 1953 nach West-Berlin.

 

1960 schliesst Polke eine Lehre als Glasmaler ab und nimmt an der Kunstakademie Düsseldorf ein Kunststudium auf, das er bei Gerhard Hoehme und Karl Otto Götz 1967 beendet.

 

Noch während des Studiums begründet er 1963 zusammen mit >Gerhard Richter, dem Filmemacher Manfred Kuttner und Konrad Lueg (Künstlername des späteren berühmten Galeristen Konrad Fischer) einen neuen Kunststil, den sie «Kapitalistischen Realismus» nennen – als Gegenpart zum ostdeutsch-sowjetischen Kunstkampfbegriff «Sozialistischer Realismus» mit seinen Arbeiter- und Bauerngemälden.

 

An der Documenta 5 in Kassel nimmt Polke 1972 in der Abteilung «Individuelle Mythologien» teil. Darunter versteht man: Der Künstler schafft Räume, die er mit persönlichen Gegenständen und Erinnerungsstücken symbolträchtig ausstattet.

 

In den 1980er-Jahren experimentiert er mit der Fotografie, die er in seine malerischen Werke einfliessen lässt. Der Einsatz von Chemikalien, toxischen Farben, von Gold, Silber, Radium und Uran tragen ihm den Ruf eines «Alchemisten» ein. Es entstehen abstrakte Bilder auf Fotopapier, sozusagen von der Natur gemacht.

 

Seinen bedeutendsten öffentlichen Auftrag erhält er vom Grossmünster Zürich. Dort wird er 2006 mit der Erneuerung der Glasfenster beauftragt, die er bis 2009 fertigstellt. >Grossmünster Zürich

 

Polke stirbt am 10. Juni 2010 an einer Krebserkrankung – mit erst 69 Jahren. 2018 gründet seine Tochter Anna eine Stiftung zur wissenschaftlichen Erforschung seines Lebenswerkes. >mehr

 

 

 

 

 

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Sigmar Polke auf dem Kunstmarkt

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Dschungel, 1967.
Foto©Sotheby's.

 

 

Polke-Werke werden heute zu Millionenbeträgen gehandelt. Hier die bisher drei teuersten Werke:
(Stand 2021)

 

1. Dschungel (1967). An der Auktion vom 11.2.2015
bei Sotheby's in London für 27.1 Mio US$ verkauft.


2. Ohne Titel (Dschungel, 1967). An der Auktion bei Christie's London am 9.10.2013 für 9.4 Mio $ verkauft.

 

3. «Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!» (1969-1971). Am 17. Mai 2018 bei Christie's in New York für 8.5 Mio US$ versteigert.

 

 

 

 

 

 

 

 

Titelbild (Ausschnitt)

Sigmar Polke (1941-2010).

Ohne Titel (Drehung), 1979.

Städel Museum Frankfurt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Schokoladenbild, 1964. Foto WikiArt FairUse.

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Bunnies, 1964. Foto WikiArt FairUse.

 

1963: Der Kapitalistische Realismus

 

Noch während seines Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf gründet Polke zusammen mit >Gerhard Richter, dem Filmemacher Manfred Kuttner und Konrad Lueg (Künstlername des späteren berühmten Galeristen Konrad Fischer) einen neuen Kunststil, den sie augenzwinkernd den «kapitalistischen Realismus» nennen. Als Gegenpart zum ostdeutsch-sowjetischen Kunstkampfbegriff «Sozialistischer Realismus» mit seinen UdSSR-und DDR-Sujets.

 

Eigentlich geht es beim Kapitalistischen Realismus weniger um einen «Kunststil» als vielmehr darum, die Grundlagen für selbst organisierte Ausstellungen zu schaffen. Die vier Künstler nisten sich in Düsseldorf in einem Ladenlokal ein und annoncieren grossspurig:

 

«Wir zeigen erstmalig in Deutschland Bilder, für die die Begriffe wie Pop-Art, Junk Culture, imperalistischer oder Kapitalistischer Realismus, neue Gegenständlichkeit, Naturalismus und German Pop kennzeichnend sind». Am 11. Mai 1963 findet die erste Ausstellung statt.

 

Die vier «kapitalistischen Realisten» thematisieren in erster Linie das oberflächliche, konsum-orientierte Gesellschaftssystem. Später erweitern sie das Themenspektrum um die auch im «Kritischen Realismus» behandelten Sujets wie Unterdrückung der Frau, Krieg und Rassenhass.

 

Sigmar Polke (1941-2010). Freundinnen II, 1967. Foto ab Lithographie.

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Levitation, 2005. Kunstharz auf Gaze und Gewebe. Kunsthaus Zürich.

 

«Slow-Malerei» mit Rasterbildern

 

Eines von Polkes Markenzeichen sind auch seine Rasterbilder, mit denen er Zeitungsfotos mit grobem Raster «imitiert». Aber es sind keine Fotos und keine Drucke, auch wenn sie so wirken – es sind Gemälde.

Seine ersten Rasterbilder fertigt er von Hand – Punkt für Punkt aufbauend. Er scheint die Langsamkeit des Malens zu lieben. Tatsächlich ist das Aufbauen eines Bildes aus lauter Punkten ziemlich aufwändig. Später arbeitet er auch mit Schablonen und überträgt den Raster auf die Grafik.

 

Für sein berühmtes Bild Freundinnen ist die Ausgangsvorlage eine kleine Zeitungs-Reklame. Von diesem Sujet stellt er Farblithografien her.

 

Im Werk Levitation (=freies Schweben eines Körpers im Raum) kombiniert er die gerasterte Menschengruppe, die entsetzt nach oben blickt, mit einem abstrakten, (brennenden?) Gewitterhimmel.

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Auf höheren Befehl gemalt, 1966. Detail. Pinakothek der Moderne München.

 

Sigmar Polke (1941-2010). Auf höheren Befehl gemalt (Flamingos), 1966. Pinakothek der Moderne München.

 

 

1966: «Auf höheren Befehl gemalt»

 

Mit solchen Werken zeigt Polke immer wieder seine humoristisch-ironische Seite. Zu diesem Werk mit zwei Flamingos verfasst er den Text:

 

«Ich stand vor der Leinwand und wollte einen Blumenstrauss malen. Da erhielt ich von höheren Wesen den Befehl: Keinen Blumenstrauss! Flamingos malen! Erst wollte ich weiter malen, doch dann wusste ich, dass sie es ernst meinten».

 

Es ist nicht sein einziges Werk, das er auf «höheren Befehl» malt. In einem anderen aus dem Jahr 1969 befehlen ihm höhere Mächte: «Rechte obere Ecke schwarz malen! Wir haben es hier mit einem zentralen Kunstwerk der Bundesrepublik zu tun».

 

Das Gemälde wird zu einem seiner bekanntesten «Bildwitze». Ein Bild, auf dem eigentlich nichts zu sehen ist und auf dem es auch nichts zu entdecken gibt – nur gerade die schwarze Ecke oben rechts auf einer weissen Leinwand von 1.5 x 1.25 Meter.

 

Günstig ist das Bild dennoch nicht zu haben. Es wurde 2018 bei einer Auktion von Christie's in New York für stolze 8.5 Mio Dollar ersteigert. Käufer unbekannt.

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Urangestein, 1992. Ausstellung 2005 Kunsthaus Zürich.

 

Radioaktives Gestein auf Fotoplatten. ©The Estate of Sigmar Polke.

 

 

Gefährliche Arbeit mit toxischen Stoffen

 

Polke arbeitet mit aussergewöhnlichen Materialen. Dazu gehören Blei, Arsen, Schwefel, Zinnober und Mineralfarben – sogar radioaktives Gestein. Das hat ihm den Übernamen Alchemist eingetragen. Er sträubt sich nicht dagegen und bezeichnet sich auch mehrfach selbst als solchen.

 

Der Künstler experimentiert mit einem ganzen Arsenal von teils hochgiftigen Chemikalien. Mit toxischen Lacken, mit Kaliumpermanganat, mit radioaktivem Radium, mit Uran. Wie die dabei entstandenen Werke in ferner Zukunft aussehen werden, weiss man noch nicht, denn die chemischen Prozesse laufen ja weiter. Ein interessanter Aspekt für Sammler, die heute ein Werk Polkes erwerben.

 

Jedenfalls stellt sich die Frage, ob diese gefährlichen Stoffe ein Grund dafür sein könnten, dass Polkes Gesundheit in den späten Jahren stark angegriffen ist. Der Künstler stirbt 2010 an einer Krebserkrankung im Alter von erst 69 Jahren.

 

 

Sigmar Polke (1941-2010). Untitled (Karin), 1970. Fotografie, Silbergelatine-Print. ©The Estate of Sigmar Polke.

 

Sigmar Polke – der Fotofan

 

Heute werden mit den Handys täglich Millionen von Fotos geschossen. Das war in den 1960er- und 70er-Jahren nicht der Fall. Polke ist aber schon damals ein «Vielfotografierer» – die Kamera ist sein ständiger Begleiter.

 

Er experimentiert mit langen Belichtungen und bewusster Unschärfe, packt gezielt «kunstgerechte Fehler» in seinen Fotografien. Er will die Fotografie keinesfalls als dokumentarische Werke verstanden wissen. Und bei der Entwicklung der Bilder geht er eigene Wege – er experimentiert mit allen nur denkbaren Materialien und Chemikalien.

 

 

Sigmar Polke im Atelier bei der Verarbeitung von Achatscheiben.
Foto Jacqueline Burckhardt.

 

Sigmar Polke (1941-2010). Fenster Grossmünster Zürich, 2009. Achatschnitte.

 

Sigmar Polke (1941-2010). Fenster Grossmünster Zürich, 2009. Der Sündenbock.

 

Die Kirchenfenster im Grossmünster Zürich

 

2005 schreibt das Grossmünster einen Wettbewerb für Kirchenfenster aus, den Polke gewinnt. Für die Westseite der Kirche fertigt er bis 2009 sieben Fenster aus nicht-figurativen Achat-Schnitten, die für die Urzeit der Erdgeschichte stehen. Eine zweite Serie zeigt Motive aus dem Alten Testament wie Elijas' Himmelfahrt, König David, den Sündenbock und Isaaks Opferung.

 

>mehr über Grossmünster Zürich

 

Infos zur Fenster-Produktion finden sich in einem «Polke Post» aus dem Jahr 2020, verfasst von Jacqueline Burckhardt. >Polke Post 17, 2020

 

Ausschnitt aus dem Post:

«Polke lag daran, alle zwölf Fenster so erscheinen zu lassen, als hätten sie bereits seit der Romanik die Kirche geziert. Er wollte weder materiell noch stilistisch einen Fremdkörper einführen.

 

Die Achate sind in der Technik der Butzenscheibenfenster eingefasst, die um das Jahr 1200 erfunden wurde. Aber niemals hätte man im Mittelalter Achatscheiben so dünn, also ca. 1 bis 2 cm, schneiden können. Dazu braucht es eine Diamantsäge oder eine Laseranlage, Elektrizität.
Die Inspiration für die Fenster aus Naturstein fand Polke in den Alabasterfenstern des Mausoleums der Galla Placidia in Ravenna, einem Gebäude aus dem frühen 5. Jahrhundert. Alabaster ist sehr viel weicher als Achat und konnte bereits in der Antike und noch früher so bearbeitet werden, dass er durchscheinend wurde.

 

Als Erster in der Kunstgeschichte stattete Polke eine Kirche mit Fenstern aus Achatscheiben aus, denen ein anspruchsvolles ikonografisches Programm zugrunde liegt. Schon immer interessierte er sich im doppelten Wortsinn für das Eindringen in die Materie, das Durch-sie-Hindurchsehen und für all die Elemente, aus der sie besteht und aus der letztlich die Welt zusammengesetzt ist.»
Jacqueline Burckhardt

 

 

>mehr über die Polke-Fenster im Grossmünster


 

Mehr über Sigmar Polke:

http://www.sigmar-polke.de

 

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