Ausstellung «À contre-courant, Chaïm Soutine»
Kunstmuseum Bern, 16.8. bis 1.12.2024
Egal, ob er Landschaften oder Porträts malt – alles kommt verzerrt daher. Das ist sein Markenzeichen.
Nur: Wieso tut er das? Ist es innere Zerrissenheit,
sind es existenzielle Ängste? Das weiss niemand.
Sicher ist: Soutine schwimmt gegen den Strom. Er lehnt die damals herrschende akademische Strömung komplett ab, macht sein eigenes Ding und damit den Weg frei für
den abstrakten Expressionismus.
Ausstellungsplakat
Chaïm Soutine um 1928.
Foto©Musée d'art et d'histoire
du Judaïsme, Paris.
Chaïm Soutine kommt 1893 in Smilawitschy zur Welt, in der Nähe von Minsk (heute Weissrussland). Als zehntes von elf Kindern wächst er in einer von Armut geprägten jüdischen Familie auf – er spricht nur Jiddisch. Soutines Vater ist Flickschuster und möchte seinem Sohn dieses Handwerk auch beibringen, aber Chaïm will Maler werden.
1909 reist er nach Minsk, um dort einen Zeichenkurs zu besuchen. 1910 zeichnet er das Porträt eines orthodoxen Mannes (eines Rabbi?). Das legt man ihm als Verstoss gegen das jüdische >Bilderverbot aus. Daraufhin wird er von den Söhnen dieses Mannes schwer misshandelt. Soutines Eltern werden dafür entschädigt und finanzieren damit Chaïms Ausbildung an der Kunstschule in Vilnius.
1913 reist er nach Paris und lebt dort in der Atelier-Gemeinschaft «La Ruche» in Montparnasse. Seine Künstlerkarriere beginnt mit Hunger, Krankheit und völliger Mittellosigkeit. Dann bricht 1914 der Erste Weltkrieg aus. Er meldet sich freiwillig zum Dienst, wird aber aufgrund seiner Magenerkrankung – die ihn zeitlebens verfolgen wird – abgelehnt.
In der Künstlersiedlung «Cité Falguière» entsteht eine enge Freundschaft mit >Amedeo Modigliani (1884–1920). Dieser überredet seinen eigenen Galeristen Léopold Zborowski, auch Soutine unter Vertrag zu nehmen. Soutine arbeitet nun für ein bescheidenes Taggeld.
Als 1918 die Deutschen Paris bombardieren, reisen Soutine und Modigliani nach Vence und Cagnes-sur-Mer an die Côte d'Azur. 1919 schickt Zborowski Soutine in die kleine Pyrenäenstadt Céret. Dort entstehen zahlreiche Landschaften und Porträts der Stadtbewohner, darunter der berühmte «Pâtissier», der Soutine zum Durchbruch verhelfen wird.
1920 stirbt sein Freund Modigliani. Es ist ein Schock. Soutine zerstört viele seiner Werke – einige kann sein Galerist Zborowski gerade noch retten.
1922 kommt der amerikanische Kunstsammler
>Albert Barnes ins Spiel. In Paris sucht er nach Werken für eine Sammlung, die er in Philadelphia/USA aufbauen will. Ein Werk aus der Serie «Le Pâtissier» begeistert ihn. Er kauft es und 50 weitere Gemälde. Die Preise liegen zwischen 15 und 30 Dollar pro Stück. Für Soutine ist das ein grosser Erfolg – ganz (Kunst)Paris erfährt davon. Dann publiziert der Kunsthändler >Paul Guillaume auch noch einen Artikel über Soutine in seiner Zeitschrift «Les Arts à Paris» – für Soutine ein weiteres Highlight. Es bedeutet künstlerische Anerkennung und verbessert seine finanzielle Lage merklich.
1925 bekommt er mit Déborah Melnik, die er aus seinen Kunststudien in Vilnius kennt, eine Tochter, Aimée (die er aber nie als sein Kind anerkennt).
1935 richtet ihm der Arts Club of Chicago die erste umfassende Ausstellung in den USA aus. Und auch in Paris kann Soutine zehn seiner Werke zeigen: in der Ausstellung «Peintres instinctifs, Naissance de l’expressionnisme».
1937 lernt Soutine im Künstlertreff «Café du Dome» in Montparnasse die die deutsch-jüdische Exilantin Gerda Groth kennen. Sie nimmt ihn bei sich auf – er nennt sie «Mademoiselle Garde». Im Sommer 1940 besetzen die Nazis Paris, die Juden werden verfolgt. Gerda Groth wird in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen deportiert. Soutine sieht sie nie wieder.
1940 trifft Soutine in Paris die Malerin und frühere (zweite) Ehefrau von >Max Ernst, Marie-Berthe Aurenche (1905–1960). Aurenche und Soutine gelingt es, an gefälschte Papiere zu kommen. Sie finden Zuflucht in Champigny in der Region Centre-Val de Loire, wo sie bis zu seinem Tod zusammen leben, aber nicht heiraten.
1943 verschlechtert sich Soutines gesundheitlicher Zustand drastisch. Aufgrund eines perforierten Magengeschwürs muss er im Spital in Paris notoperiert werden und stirbt zwei Tage später, am 9. August 1943, im Alter von nur 50 Jahren.
Titelbild (Ausschnitt)
Chaïm Soutine (1893-1943).
La vieille actrice, 1922.
McClain Gallery.
Chaïm Soutine (1893-1943). Selbstporträt, 1918. Princeton University Art Museum.
Chaïm Soutine (1893-1943). La vieille fille, 1920. Musée d'art et d'histoire, Genève.
Chaïm Soutine (1893-1943). Nature morte aux harengs, 1916. Galerie Larock-Granoff Paris.
|
Frühphase in Paris – von Armut geprägt
Sein Start als Künstler in Paris um 1913 ist hart. Er spricht nur Jiddisch und lebt lange in bitterer Armut, zusammen mit anderen Migranten aus Osteuropa. Zunächst in der Ateliersiedlung La Ruche in Montparnasse, dann in der Cité Falguière. Dort freundet sich mit >Amedeo Modigliani an. Dieser überzeugt seinen Kunsthändler Léopold Zborowski, auch Soutine unter Vertrag zu nehmen. So kommt Soutine zu einem bescheidenen Verdienst – nun arbeitet er für ein Taggeld.
Soutine entwickelt seine ganz eigene, expressive Bildsprache. Der Künstler geht zwar immer vom realen Gegenstand aus – ob in Stillleben, Porträts oder Landschaften – aber nicht realistisch, sondern in seinem eigenen, verzerrten Stil.
Offenbar gefallen ihm aber nicht alle seiner Werke, denn zwischen 1913 und 1917 zerstört er viele seiner Arbeiten. Deshalb sind Soutine-Werke aus dieser Zeit ziemlich rar.
Eines seiner bekanntesten Stillleben aus dieser Zeit ist Nature morte aux harengs (Stillleben mit Heringen, 1916). Das Bild passt ausgezeichnet zur Armut, in der er in dieser Phase lebt und arbeitet.
Das Gemälde zeigt drei magere Heringe auf einem kargen Teller. Daneben sind zwei an Klauen erinnernde Gabeln zu sehen, die nach den Fischen greifen. Eine leere Schale verdeutlicht die Hunger-Szenerie. Stilistisch weist es bereits Soutines charakteristische Malweise auf: Krumme Pinselstriche und intensive Farben.
Das Stillleben mit den dürren Heringen ist ein treffliches Beispiel für Soutines frühe Schaffensphase. Und für seinen Kampf ums Überleben im Paris der 1910er-Jahre. |
Chaïm Soutine (1893-1943). Les maisons, 1920-21. Musée de l'Orangerie Paris.
Chaïm Soutine (1893-1943). La route de la colline, 1924. Tate London. |
Verzerrte Landschaften
1919 schickt ihn sein Kunsthändler Léopold Zborowski zum Malen nach Céret, einem kleinen Ort in den französischen Pyrenäen nahe der spanischen Grenze. Hier entdeckt Soutine seine Begeisterung für die Pleinair-Malerei und entwickelt seinen eigenen Stil wie in diesem Gemälde Les maisons: Rohe Pinselstriche, kräftige Farben pastös aufgetragen, ein Chaos von verzerrt dargestellten Häusern.
|
Chaïm Soutine (1893-1943).
|
«Le Pâtissier» bringt den Durchbruch
1922 ist der amerikanische Kunsthändler
Das Bild links (im Musée de l'Orangerie Paris) ist allerdings nicht jenes, das Barnes kauft. Seines heisst aber auch «Le Pâtissier». Es befindet sich heute in der >Barnes Foundation in Philadelphia. Soutine malt insgesamt sechs Versionen des Pâtissiers.
Rekordverkauf eines «Petit Pâtissiers»
«Le petit pâtissier» von 1927 (mit in die Hüften gestemmten Armen) ist das teuerste bisher verkaufte Werk von Chaïm Soutine. Das Bild wird 2013 bei Christie’s in New York von einem chinesischen Sammler für 18 Mio US-Dollar ersteigert.
|
Chaïm Soutine (1893-1943). Der Page, 1925. Musée de l'Orangerie, Paris.
Chaïm Soutine (1893-1943). Oberkellner, 1927. Museum Folkwang, Essen.
|
Soutines Herz für die «kleinen Leute»
Lange Zeit war das Genre der Porträtmalerei für die Oberschicht reserviert: Für Könige, Herzöge, Adlige, später auch – vor allem in den Niederlanden – für wohlhabende Kaufleute. Damit räumt nun Soutine auf. Für ihn sind einfache Menschen, wie er selbst auch einer ist, interessanter.
So malt er ganze Serien von «Normalmenschen» aus der unteren Gesellschaftsschicht, aus der er selbst stammt. Das ist umso bemerkenswerter, als er jetzt – dank seinem finanziellen Durchbruch als Künstler – in teuren Hotels und Restaurants verkehren kann. Dort findet er seine Modelle: Zimmermädchen, Pagen, Kellner und Köchinnen. Am liebsten in ihren Uniformen.
Seinem «Tick», die Körper und Gesichter seiner Modelle verzerrt darzustellen, bleibt er aber auch bei den «Normalmenschen» treu. Die meisten zeigt er mit grossen roten Ohren, die Gesichter sind immer asymetrisch dargestellt, alles wirkt karikaturhaft. Auffallend ist aber, dass er diese Bediensteten in stolzen Haltungen zeigt, nie unterwürfig, oft mit in die Hüften gestemmten Armen.
|
Chaïm Soutine (1893-1943). |
Soutines Förderer: die Castaings
Es sind seine wichtigsten Mäzene: Die Castaings unterstützen den Künstler sowohl finanziell als auch moralisch und ermöglichen es ihm so, sich ganz auf die Kunst zu konzentrieren. Das Sammlerpaar Marcellin und Madeleine Castaing kauft ihm nicht nur Werke ab, sondern hilft auch aktiv mit, seine erste grosse Einzelausstellung in Chicago zu organisieren.
Besonders Madeleine Castaing ist von Soutines Kunst angetan – die Kunsthändlerin und Innenarchitektin verehrt ihn geradezu und sieht ihn auf einer Ebene mit Rembrandt oder El Greco. Soutine malt 1928 ein >Porträt von ihr, das heute im Metropolitan Museum of Art in New York hängt.
Die Castaings bewohnen einen herrschaftlichen Landsitz in Lèves bei Chartres. Sie laden den Künstler regelmässig ein, seine Sommermonate dort zu verbringen. Soutine findet hier Ruhe und ideale Arbeitsbedingungen.
Und auch Modelle, die seine Serie der «kleinen Leute» erweitern. Sie gehören zum Hauspersonal der Castaings, wie die Köchin oder das Zimmermädchen (La femme de chambre, 1930).
|
Chaïm Soutine (1893-1943). Le grand arbre de Vence, 1929. Kunstmuseum Bern.
Chaïm Soutine (1893-1943).
|
Spätwerk
In den 1930er-Jahren entstehen Werke, die nicht mehr ganz so verzerrt daher kommen wie vorher.
1940 ist Paris von deutschen Truppen besetzt, die Nazis machen sich auch hier – wie in Deutschland – an die Verfolgung von Juden. Soutine wird von der Gestapo gejagt und muss sich verstecken. Er wechselt ständig seinen Wohnsitz.
Trotzdem malt er weiter. In seinen späten Werken fällt auf, dass er jetzt zu sanfteren, helleren Farbtönen greift. «La Liseuse» (1940) ist ein gutes Beispiel dafür. Es erscheint auch etwas weniger verzerrt als seine frühen Werke. Das relativ grosse Bild (65 x 80 cm) befindet sich heute in der Sammlung des Centre Pompidou in Paris.
|
|
Werke in der Ausstellung KM Bern 2024 |