Ausstellung im Haus Konstruktiv Zürich,
«Konzepte des All-Over», 3.10.24-13.4.2025
Was soll man sich unter «All-Over» vorstellen? Hat es etwas damit zu tun, dass im Haus Konstruktiv bald alles «over» ist, weil das Museum demnächst umziehen muss? Nein, der Begriff existiert tatsächlich in der Kunst. Er umschreibt eine flächendeckende Gestaltung eines Bildträgers über dessen Begrenzung hinaus. Oder auch die Bespielung eines ganzen Raumes.
Ausstellungsplakat
Ein illustres Beispiel des «All-Over»-Konzeptes gibt es schon seit einem Vierteljahrhundert im Haus Konstruktiv zu sehen, als permanente Einrichtung. Es ist der «Rockefeller Diningroom», der 1963-1964 von Fritz Glarner geschaffen wurde. Es handelt sich um ein Zeugnis konkreter Raumgestaltung nach dem Konzept des «Relational Paintings». >mehr
Fritz Glarners «Rockefeller Diningroom» im
Haus Konstruktiv, 1963-64. >mehr
Wenn das Haus Konstruktiv im Mai 2025 das EWZ-Unterwerk Selnau verlassen muss, weil dort im Rahmen des Energiekonzepts Cool City eine neue Energiezentrale gebaut wird, dann zügelt man auch den Rockefeller Diningroom. Er soll dann am neuen Standort, im Kunstareal Löwenbräu, wieder aufgebaut werden.
Umzugs-Voranzeige
Die Ausstellung «Konzepte des All-Over» präsentiert eine Reihe weiterer Werke, in denen die Architektur zum Bildträger wird. In zahlreichen verschiedenen Formen werden Böden, Wände und Decken des Museums in die Kunstwerke mit einbezogen – ganz im Sinne des All-Overs.
>Pressemitteilung zum Umzug (März 2023)
>mehr über Haus Konstruktiv Zürich
Titelbild (Ausschnitt)
Carlos Cruz-Diez (1923-2019).
Chromosaturation, 1965.
Haus Konstruktiv Zürich.
Esther Stocker (1974). A space for thoughts, 2024. Haus Konstruktiv Zürich.
Esther Stocker (1974). A space for thoughts, 2024. Haus Konstruktiv Zürich. |
Esther Stocker: Die gestörten Linien
Das Highlight der Ausstellung – gleich in der Eingangshalle. Die im Südtirol geborene und in Wien lebende Künstlerin überzieht in ihrer spektakulären Installation A Space for Thoughts den gesamten Raum mit einem orthogonalen (=rechtwinkligen) Liniennetz. Die schwarzen Linien aus Klebeband laufen über den Boden, die Wände hoch und machen auch bei den Fenstern nicht halt, hier werden sie von Holzlatten getragen. Im Raum selbst – der beinahe «unendlich» erscheint – platziert die Künstlerin Knitterskulpturen. An den Wänden, auf dem Boden oder von der Decke hängend. Die Knäuel wirken wie von Hand zerknülltes Papier – raffiniert und täuschend echt gemacht, aus PVC-Folie.
Diese Knäuel haben eine klar bestimmte Aufgabe: Sie sollen die Ordnung des linearen Liniennetzes ganz bewusst stören und das orthogonale System aus dem Gleichgewicht bringen. Die Störung findet tatsächlich statt – im positiven Sinn. Denn an den Knäueln kann sich nun das Auge orientieren und ausruhen. Ohne sie könnte einem in diesem Gittersystem leicht schwindlig werden.
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Reto Pulfer (1981). Zustand Urgeflecht, 2024. Haus Konstruktiv Zürich.
Reto Pulfer (1981). Zustand Urgeflecht, 2024. Haus Konstruktiv Zürich. |
Reto Pulfer: Stoff(t)räume
Am liebsten würde man sich in seine von Licht durchfluteten Zeltstätten reinkuscheln. Der 1981 in Bern geborene Künstler vereint in seinen Werken textile Malerei mit Installationskunst. In seinen Zeltinstallationen sieht er Bezüge zu altägyptischen Grabkammern und zu römischen Raumbemalungen der Antike. Entstanden ist ein Parcours aus textilien Kunstwerken und Klangelementen.
Die von ihm selbst genähten Zelte bestehen zum Teil aus gebrauchten Stoffen und wirken als Träger von eigenen literarischen Texten, kryptischen Zeichen, Symbolen und filigran gemalten Fantasiepflanzen in lichten Pastelltönen, die eine wohlige Ruhe vermitteln.
>Film Reto Pulfer und Sabine Schaschl
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Christine Streuli (1975). Who pays the Bill?, 2024.
Nebenwände.
Nebenwand. |
Christine Streuli: Who pays the Bill?
Im dritten Stock des Hauses Konstruktiv bespielt die 1975 in Bern geborene und in Berlin lebende Künstlerin den gesamten Raum mit einem 360-Grad-Panorama. Der Titel ist nicht zufällig gewählt, denn Ausgangspunkt ist ein berühmtes Werk des Schweizer Konstruktivisten >Max Bill – ein Gemälde aus dem Jahr 1942: «Horizontal-vertikal-diagonal-Rhythmus».
Dieses Schlüsselwerk von Max Bill hat die Künstlerin monumental vergrössert und nur leicht verändert auf die Hauptwand übertragen. Die Anschlussseiten sind mit wilden Wandmalereien ergänzt. Diese stammen aus dem ganzen Spektrum der Malerei – von abstrakten Kompositionen über Figuration und Konstruktion bis in die Gegenwartskunst, in einer fast unüberblickbaren Vielfältigkeit. So wechseln sich bunte geometrische Formen mit spielerisch-lichten Blumenmustern ab, und Elemente von Paintdripping kontrastieren mit expressiv-düsteren Wolkengebilden.
Nicht ganz erschliesst sich, welche Antworten die Künstlerin auf ihre Titelfrage «Who pays the Bill?» erwartet. Erkennbar sind immerhin der künstlerische Bezug auf Max Bill und Streulis unbändige Lust an der Malerei in allen Facetten.
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Carlos Cruz-Diez (1923-2019). Chromosaturation, 1965. Haus Konstruktiv Zürich.
Im Farbennebel.
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Carlos Cruz-Diez: Farbenphänomene
Die eindrücklichste Augen-Sensation dieser Ausstellung. Drei Kammern werden in intensives grünes, rotes und blaues Licht getaucht. Und zwar so, dass die Farbe jedes Raumes in die anderen Räume abstrahlt. Mit der Zeit beginnen die Farben miteinander zu verschmelzen. Es entstehen nicht nur neue Mischtöne, auch bildet sich an den Übergängen eine Art Nebel. Ein Farbnebel, der alles traumhaft sanft und verschwommen erscheinen lässt. Aber es ist keine Traumwelt, nur ein physikalisches Phänomen.
Der 1923 in Caracas geborene und 2019 in Paris verstorbene Carlos Cruz-Diez nennt sein Werk Chromosaturation. Es soll das Zusammenwirken von Licht und Farbe vor Augen führen.
Die Hauptrolle spielt dabei der Sukzessivkontrast. Darunter versteht man ein physiologisch bedingtes Phänomen des menschlichen Sehsinns: Nach längerer Betrachtung einer Farbfläche nimmt das Auge ein Nachbild in der Komplementärfarbe wahr. Dieses Nachbild entsteht, weil die Sehzellen in der Netzhaut durch fortwährende Reizung ermüden.
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Ana Montiel (1981). The Cortical Columns (deepening into
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Ana Montiel: Das unstete Seherlebnis
Auch in diesem Werk der mexikanischen Künstlerin geht es um die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung. The Cortical Columns befasst sich mit neuronalen Strukturen im Gehirn, die uns Farben wahrnehmen lassen. Die Künstlerin versucht mit ihrer Säulenmalerei, das Phänomen zu erklären.
Sie besprüht die Leinwände in ganz feinen Nuancen und mehreren Schichten, sodass das neuronale System im Auge des Betrachters überfordert wird. Dadurch entsteht ein irisierend-verschwommenes Bild und führt zu einem unsteten Seherlebnis – abhänging von Lichteinfall und Blickwinkel. Nur aus nächster Nähe sind die einzelnen Farbstrukturen noch erkennbar.
Montiel verweist dabei auf die Überlegungen des deutschen Philosophen Thomas Metzinger (geb. 1958, «Philosophie des Geistes»), wonach die Wahrnehmung der Realität als eine Art von Simulation des Gehirns verstanden werden kann.
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Ausstellung «Konzepte des All-Over»
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