Erotische Liebeslieder in der Bibel?


Ja, das gibt es. Ziemlich erstaunlich, denn in Sachen Liebe, Sex und Nacktheit hat sich das Christentum von Beginn an schwer getan. Wie kommt es also, dass sich in der Bibel Textpassagen voller Erotik, Lust, Verlangen und Liebesgeflüster finden?

 

Es hängt damit zusammen, dass diese erotischen Texte zu vorchristlicher Zeit entstanden sind. Sie sind im Alten Testament zu finden (=im jüdischen Tanach) und werden traditionell König Salomo zugeschrieben. Die Texte könnten aber auch viel älter und ägyptischen oder sumerischen Urprungs sein – niemand weiss das.

 

Allerdings, und das ist etwas verwirrlich, gibt es auch im Neuen Testament ein «Hohelied der Liebe». Dieses stammt von Paulus, dem wichtigsten Missionar des Urchristentums – der von vielen Theologen als Gründer des Christentums gesehen wird. Paulus' «Hohelied der Liebe» behandelt allerdings nicht die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern die generelle Liebe und die spirituelle Liebe zu Gott: «Die Liebe erträgt alles,
glaubt alles, hofft alles, hält allem Stand».

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Ganz anders im «Lied der Lieder» von Salomo im Alten Testament, im jüdischen Tanach. Diese Texte überquellen vor Lust, Begierde, Verlangen und Lobpreisungen des Liebespartners

 

«Schön bist du, meine Freundin,

dein Hals ist ein Turm aus

Elfenbein, deine Brüste sind

wie zwei Kitzlein»

 

 

 

>Das Lied der Lieder von Salomo,
grossartig erklärt in diesem Film von
www.dasbibelprojekt.de (YouTube)

 

 

Wieso gibt es eigentlich in der Christenbibel auch einen jüdischen Teil? Das ist nicht selbstverständlich. Als das Christentum noch sehr jung war, so im ersten/zweiten Jahrhundert nach Geburt Christi, da propagierte ein Theologe namens >Marcion (85-160 n.Chr.) die «reine christliche Lehre». Heisst: Er verlangte die Abgrenzung vom Judentum und die Abkehr vom Alten Testament, dem jüdischen Tanach. Marcion wollte, dass nur Christus' Lehre zählte.

 

Die katholische Kirche konnte und wollte aber nicht auf das Alte Testament verzichten – weil es die Grundlage des damaligen Christentums bildete. Das Neue Testament gab es noch gar nicht (oder nur in diversen losen Schriften der Apostel). Kanonisiert wurde es erst viel später, nämlich 367 nach Christus. Marcion wurde zum «Ketzer» erklärt und 144 n.Chr. aus der Kirche ausgeschlossen. Der Hauptgrund für seine Verurteilung als Ketzer war allerdings eher der: Marcion behauptete, Christus sei nicht geboren worden, sondern vom Himmel her erschienen, und deshalb könne er auch nicht gekreuzigt worden sein.

 

>mehr über den Ketzer Marcion

 

Jedenfalls blieb das Alte Testament ein Bestandteil der christlichen Lehre. Dass dort erotische Texte zu finden sind, war für viele Christen ein Ärgernis – und ist es bis heute. Nach ihrer Vorstellung ist Liebe und Sex nur mit dem Ziel der Zeugung erlaubt – aber keinewegs zum Lustgewinn, wie er in Salomos «Lied der Lieder» besungen wird.

 

Um diesen «Sexgegnern» zu genügen, begannen Mystiker und Kirchenväter schon sehr früh, die lyrisch-erotischen Texte im Alten Testament umzudeuten. Wie z.B. Origenes, ein Philosoph und Bibelkommentator aus Alexandria, der von 185–254 n.Chr. lebte. Er deutete die Braut in Salomos Hohelied nun als menschliche Seele um, die ihre Liebe zu Gott und der Kirche ausdrückt.

 

Diese Interpretation wurde später von anderen Kirchenvätern wie Hippolyt oder Ambrosius von Mailand übernommen. Vom Mittelalter an verstand man das Hohelied nur noch als generelle Beschreibung der Liebe im Sinne von Paulus' Hohelied der Liebe im Brief an die Korinther. Von Lust und Erotik keine Spur mehr.

 

Sogar der Reformator >Martin Luther (1483-1546) lehnte die wörtliche Auslegung der Texte Salomos' ab und erklärte das Hohelied zu einem Werk, das die Liebe und die Wohltaten Christi gegenüber der Kirche beschreibe. Zudem fügte er an: «Jeder Vers des Liedes bedarf einer besonderen Deutung, da die Sprache des Buches durchwegs metaphorisch ist».

 

 

Marc Chagall (1887-1985). Bonjour sur Paris,
1952. Stedelijk Museum Amsterdam.

 

 

«Dein Schoss ist ein
rundes Becken, dein
Leib ist ein Weizenhügel,
mit Lilien umstellt»

 

 

Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und der schrittweisen Loslösung von der althergebrachten Kirchentreue und Frömmigkeit wurde die alte hebräische Liebeslyrik langsam wieder so verstanden, wie sie ursprünglich gedacht war: Als Ausdruck der Freude an der körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau.

 

 

>Auszüge aus Salomos Hohelied (PDF)

 

>Das Hohelied Salomos (Volltext, PDF)

 

 

 

 

 

Titelbild

Marc Chagall (1887-1985).

Au-dessus de Paris, 1968.

Kunsthaus Zürich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marc Chagall – der ideale Illustrator

 

Keiner ist besser geeignet, das Hohelied im Bild darzustellen.

Erstens kennt er sich im jüdischen Tanach wie kein anderer

aus, zweitens malt er die schönsten Liebes-

und Bibelgeschichten.

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Marc Chagall (1887-1985).
Le Paradis, 1961. Detail Adam und Eva. Musée Marc Chagall, Nice.

 

 

Marc Chagall (1887-1985). L'écuyère, 1931. Stedelijk Museum Amsterdam.

 

 

Hohelieder der Liebe gibt es
im Neuen und im Alten Testament

 

Jenes im Neuen Testament stammt von
Paulus
von Tarsus (ca. 10 v.Chr. bis 60 n.Chr.), dem wichtigsten Missionar des Urchristentums, der oft als eigentlicher Gründer des Christentums gesehen wird.

 

Paulus' Hohelied findet sich im ersten Korintherbrief und entstand um 54/55 n.Chr. Es beschreibt aber die Liebe mehr generell und enthält keine Erotik zwischen Mann und Frau.

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Das Hohelied Salomos dagegen ist ein Buch im Alten Testament und überquillt vor Erotik, Lust, Begierde und Verlangen nach körperlicher Liebe.

 

Das poetische Werk heisst auch «Lied der Lieder», hebräisch «Schir ha-Schirim». Es wird traditionell König Salomo (ca. 970-931 v.Chr.) zugeschrieben, seine Autorschaft ist aber unwahrscheinlich.

 

Die Protagonisten im Liebeslied sind eine Frau mamens Sulamith und ihr Geliebter.

 

 

>Auszüge aus Salomos Hohelied (PDF)

 


 

«Wenn er mich doch küsste...». Buch von Herbert Haag und Katharina Elliger, Patmos-Verlag, Düsseldorf.

 

 

 

 

 

 

Marc Chagall (1887-1985). Lovers, 1925. Stedelijk Museum Amsterdam.
 

 

 

 

 

«Wenn er mich doch küsste...»

 

Mit Salomos Hohelied befasst sich das Buch von Herbert Haag (1915-2001) und Katharina Elliger (1929-2019). Es ist eine Art Standardwerk über das Hohelied der Liebe geworden und beschreibt nicht nur dessen Geschichte, sondern erläutert auch die darin enthaltenen 36 Liebeslieder.

 

Wann die Texte entstanden sind, ist nicht geklärt. Man vermutet, dass sie erst nach dem babylonischen Exil (586-538 v.Chr.) verfasst wurden. Das wäre deutlich nach Salomo. Dieser war der Sohn von

>König David und soll von 971- 931 v.Chr. regiert haben. Ob Salomo also der Verfasser des Hohelieds ist, ist mehr als ungewiss.

 

Der wunderschöne Buchtitel «Wenn er mich doch küsste...» heisst übrigens in der «offiziellen» Bibel-Einheitsübersetzung (EÜ)

 

«Mit Küssen seines Mundes
bedecke er mich. Süsser als
Wein ist seine Liebe»

 

Diese Einheits-Übersetzung (EÜ) ist heute die offizielle Bibel der römisch-katholischen Kirche und entstand als Folge der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), das den Gebrauch der Landessprache in der Liturgie erlaubte. 2016 erschien eine überarbeitete Fassung, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse und sprachliche Entwicklungen berücksichtigt.

 

 

Seine Linke

liegt unter
meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich.

 

Marc Chagall (1887-1985). Musée Marc Chagall, Nice.

 

 

Marc Chagall (1887-1985).
Au-dessus de Paris, 1968. Kunsthaus Zürich.

 

 

Schwärmen von Lust und Liebe

 

Besonders bemerkenswert an diesen zärtlich-erotischen Texten ist, dass die Lobpreisungen von beiden Seiten stammen – von Mann und Frau.

 

– Schön bist du, meine Freundin, ja, du bist schön

– Schön bist du, mein Geliebter, verlockend

– Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein

– Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein

– Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide

 

«Wie eine Palme ist dein Wuchs,

deine Brüste sind wie Trauben.
Ersteigen will ich die Palme,
ich greife nach den Rispen»


Auffallend an diesen erotischen Texten ist auch, dass sie sich stets auf den Moment der körperlichen Freude, der Lust beziehen – ohne irgendwelche Hinweise auf Zukunft, Heirat oder Familiengründung. Auch das Wort Gott kommt hier nirgends vor.

 

 

>Auszüge aus Salomos Hohelied (PDF)

 

>Das Hohelied Salomos (Volltext, PDF)

 

 

 

Marc Chagall (1887-1985). Les Amoureux en vert, 1916-17. Musée Marc Chagall, Nice.

 

Mystiker deuten Salomos Liebeslied um

 

Bereits in frühchristlicher Zeit begannen Mystiker, das Hohelied allegorisch umzudeuten. Weg von der körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau, hin zur spirituellen Liebe zu Gott. Oder zur Liebe von Christus zu seinem Volk, der Gemeinde.

 

Die erotische Auslegung des Textes wurde komplett abgelehnt. Kirchenväter wie Origenes (185–254 n. Chr.) stützten diese Haltung und deuteten die Braut des Hohelieds als die menschliche Seele, die ihre Liebe Gott entgegenbringt.

 

Im Mittelalter erlebte die mystische (Um)Deutung
des Hohelieds ihre Blütezeit, insbesondere mit der >Marienverehrung. Von nun an wurde das Hohelied als Beschreibung der Liebe zwischen Christus und der Kirche oder zwischen Gott und der Seele ausgelegt.

 

 

Marc Chagall (1887-1985). Les amoureux en gris, 1956-60. Kunsthaus Zürich.

 

Egon Tschirch (1889-1948). Hohelied Salomos, Studie H, 1923. Wolfgang Adler, WikiCommons 3.0.

 

Lovis Corinth (1858-1925). Das hohe Lied, 1911. WikiCommons.
 

 

Das Hohelied der Liebe in der Kunst

 

Unzählige Maler und Künstler haben sich mit der Darstellung der Liebe, von Liebespaaren oder auch explizit mit dem Hohelied Salomos befasst.

 

Ein ganz grosser Name ist >Marc Chagall. Seine lieblichen Szenen von weltlichen Liebespaaren sind ebenso berühmt wie seine biblischen Darstellungen des Alten Testamentes. Das Musée Marc Chagall in Nizza zeigt die grösste Sammlung von biblischen Gemälden Chagalls.

 

>mehr über Musée Marc Chagall, Nice

 

 

Auch aus dem 20. Jahrhundert stammt eine komplette «Hohelied»-Serie des deutschen Malers Egon Tschirch (1889–1948), gefertigt um 1923. Das Werk galt über neunzig Jahre als verschollen und wurde 2015 wiederentdeckt. Tschirch interpretiert die erotischen Texte aus Salomos Liebesliedern in rund fünfzig Blättern – voll von erotischer Zuneigung und Sinnlichkeit.

 

 

Noch früher, 1911, illustrierte der preussische Maler

>Lovis Corinth (1858-1925) das Hohelied Salomos mit einer Serie von 26 Farblithographien, die in Berlin vom bekannten Verleger Paul Cassirer in Form eines Buches veröffentlicht wurden. In diversen Ausgaben und hochwertigen limitierten Editionen. Einzelne Farblithos wurden auch handgefertigt und vom Künstler signiert.


Lovis Corinths Farblithos greifen die poetischen und erotischen Inhalte des Hoheliedes der Liebe von Salomo auf. Sie zeigen Szenen von Liebe, Verlangen und Sehnsucht – ganz wie in den altbiblischen Texten geschildert.

 

 

 

Marc Chagalls biblische Werke im Musée Marc Chagall, Nice

 

Marc Chagall (1887-1985). Adam et Eve chassés du Paradis, 1961. Detail. Musée Marc Chagall, Nice.

 

 

Adam und Eva


...und alles, was das Alte Testament sonst noch zu bieten hat, verarbeitete Marc Chagall in grossartigen und grossformatigen Gemälden. Diese wurde in Südfrankreich zusammen getragen in sind in einem Museum in Nizza zu sehen:

 

 

>Musée Marc Chagall, Nice

 

>Fotogalerie Chagall, biblische Werke