Was für eine grossartige Ausstellung, die das Kunstmuseum Aarau hier aus dem Boden gestampft hat! Mit Werken von 150 Schweizer Künstlerinnen und Künstlern, darunter ganz Grosse wie Alberto Giacometti, Jean Arp, Max Bill, H.R. Giger, Meret Oppenheim, Niki de Saint Phalle, Roman Signer, Jean Tinguely und vielen weiteren.
Die komplette Liste findet sich auf der letzten Seite
der >Ausstellungsbroschüre (PDF).
Ausstellungsplakat.
Egal, welche Kunstrichtung man bevorzugt – von klassisch bis avantgardistisch oder von surreal bis zeitgenössisch – für alle gibt es etwas zu entdecken. Viel Neues ist dabei, das man noch nie gesehen hat. Und eindrücklich belegt die Ausstellung, wie umfangreich und wie vielfältig die Palette der Schweizer PlastikerInnen ist.
Die Präsentation in den zwölf grossen und hellen Räumen ist eine Wucht. Ebenso die chronologische Anordnung, die einen durch die Jahrzehnte spazieren lässt und einem vor Augen führt, wie sich die skulpturale Kunst seit 1945 entwickelt hat. Und man staunt, wie viele neue Materialien und Technologien dazu gekommen sind.
Das Vergnügen beginnt schon auf der Dachterrasse des Kunsthauses und zieht sich weiter in den schönen Park dahinter. Kunst, soweit das Auge reicht.
Rudolf Blättler (1941).
Mann und Weib, 1994.
Kunsthaus Aarau, Dachterrasse.
Jakob Johann Probst (1880-1966).
Erwachen, 1958.
Kunsthaus Aarau, Park.
Olivier Estoppey (1951).
Le Loup (Beton), 2007-08.
Kunsthaus Aarau, Park.
Ugo Rondinone (1962).
Blue Yellow nun, 2020.
Kunsthaus Aarau, Park.
Titelbild (Ausschnitte)
Von links nach rechts:
Walter Linck (Bern 1903-1975-Reichenbach b.Bern), Tänzerin, 1949. Nachlass M&W.
Remo Rossi (Locarno 1909-1982 Bern). Acrobata, 1958. Bronze. Fondazione Remo Rossi Locarno.
Hans Arp (Strassbourg 1886-1966 Basel). Frucht unterwegs, 1965. Aargauer Kunsthaus Aarau.
Ganz rechts aussen:
Otto Charles Bänninger (Zürich 1897-1973 Zürich). Taille directe, 1950. Marmor. Bundesamt für Kultur.
Karl Geiser
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1944: Karl Geisers Schwäche für David
Schon als Jugendlicher träumt der Berner Bildhauer davon, eines Tages auf der Alp einen vier Meter grossen >David aufzustellen. Und er bleibt dran. 1944 bestellt die Stadt Solothurn bei ihm einen überlebensgrossen David für die Kantonsschule.
Ein Bronzeguss seines nackten Davids mit der Schleuder ist heute auch im Garten des Museums zu Allerheiligen in Schaffhausen zu sehen – und die Version mit Hose auf dem Münsterplatz.
Geiser ist bekannt für seine «Knabenliebe» – 1929 wird er wegen einer Beziehung zu einem 18-jährigen verhaftet. Er schafft aber nicht nur Werke von Männern, sondern auch «Mädchengruppen» (Bern) und den berühmten «Schreitenden Löwen» vor dem Zürcher Verwaltungsgebäude Walche.
Karl Geiser wird am 5. April 1957 tot in seinem Atelier gefunden – vermutlich Selbsttötung mit Schlafmitteln.
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Max Bill (1908-1994). Rhythmus im Raum, 1947-1948. Kunsthaus Aarau.
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1947: Avantgardistisches von Max Bill
Eigentlich ist er ja die Leitfigur der Schweizer >Konkreten und Konstruktiven, aber in seinem Werk tauchen auch immer wieder abstrakte Figuren auf.
Auf den ersten Blick erkennt man nicht, dass die Skulptur nach geometrischen Prinzipien konzipiert ist: Sie basiert auf drei sich überschneidenden Kreisringen. Die Bronzefigur steht auf einem Granitsockel und ist ca. 160 cm hoch.
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Germaine Richier (1902-1959) L'Homme de la nuit, 1954. Kunsthaus Zürich. |
1954: Germaine Richiers Homme de la nuit
Sie studiert Bildhauerei an der Académie de la Grande Chaumière in Paris. Im Atelier ihres Lehrers, Antoine Bourdelle, lernt sie Otto Ch. Bänninger kennen. Die beiden heiraten 1929 – und so wird sie Schweizerin.
Ihre Frühwerke stehen noch unter dem Einfluss ihres ersten Lehrers Antoine Bourdelle, doch bald entwickelt sie ihren eigenen Stil. Es entstehen hybride Mischfiguren aus Mensch, Tier und Pflanzen. Der «Homme de la Nuit» von 1954 macht auch noch Anleihen an Aliens.
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Remo Rossi (1909-1982). Acrobata, 1958. Bronze. Fondazione Remo Rossi Locarno. |
1958: Remo Rossi – der Akrobat
Der Tessiner studiert an der Mailänder Accademia di Belle Arti di Brera. Er durchläuft eine klassische Periode, dann eine geometrische. Er nimmt sich aber auch der sakralen Kunst an und schafft Werke für zahlreiche Kirchen. 1973 und 1975 gewinnt er erste Preise bei der internationalen Ausstellung für Skulptur in Madrid. In Locarno arbeitet er zeitweilig mit Jakob Johann Probst und >Hans Arp.
Sein abstrakter Akrobat hat einen Bezug zum berühmten Clown Dimitri des Zirkus Knie, der sich selbst für Kunst und Skulptur interessiert und in der «Casa del Clown» in Verscio einen Kunstgarten einrichtet, in dem sich Werke verschiedener Bildhauer befinden, darunter auch der «Acrobata» von Remo Rossi.
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Rosa Studer-Koch (1907-1991). Exodus, 1962. Geschwister Jäggli. |
1962: Rosa Studer-Koch – Exodus
Die Bürgerin von Winterthur ist Zeichnerin und Plastikerin. Sie ist Mitglied der Künstlergruppe Winterthur und von 1936 bis 1961 im Kongo tätig. Aus Afrika muss sie schliesslich flüchten, um ihr nacktes Leben zu retten – die dort geschaffenen Werke gehen alle verloren.
Vielleicht hat ihr Werk «Exodus» ja mit dieser Flucht zu tun. Aber in ihrer abstrakten Figur glaubt man eher Maria und Josef zu erkennen – auf ihrer Flucht nach Ägypten, oder vielleicht auf der Rückkehr?
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H.R. Giger
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1969: H.R. Giger – der berühmte Schweizer
Der Churer Hansruedi Giger – eigentlich Designer und Architekt – schafft sich als Oscar-Preisträger auch international einen grossen Namen. Den Oscar bekommt er 1980 in der Kategorie «Beste visuelle Effekte». Ausgezeichnet wird seine surrealistische Figur «Facehugger», die im US-britischen Horror-Film «Alien» von 1979 eine tragende Rolle spielt: Ein spinnenartiges Wesen, das sich auf dem Gesicht des Opfers festkrallt und ein Alien-Ei in dessen Körper pflanzt.
Die an der Aarauer Ausstellung gezeigte Figur ist ein typischer Giger eines immer wiederkehrenden Themas: Ein Biomechanoid. Das surrealistische Wesen ist eine Kombination aus Organischem und Technisch-Mechanischem.
Zu Gigers Werk gehören auch Gebärmaschinen und Erotomechanics, ein Mix aus nackten Frauenfiguren und mechanischen Elementen, auch Waffen.
H.R. Giger stirbt 2014 an den Folgen eines Sturzes in seinem Haus und wird 74 Jahre alt.
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Niki de Saint Phalle (1930-2002). Rhinocéros, 1960-65. Musée d'Art et d'Histoire Fribourg.
Niki de Saint Phalle (1930-2002) und Jean Tinguely (1925-1991). Le Cyclop, La Tête, 1970. Musée Tinguely.
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1970: Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely
An der Ausstellung in Aarau sind mehrere Werke von Niki de Saint Phalle zu sehen, darunter auch das «Rhinocéros», ein skurriles Gebilde aus allerlei Haushaltgegenständen und Spielzeugen, 1960-65. Dann die 1964 entstandene surrealistische Maske des «Kapitän Hook» und der farbenfrohe und mit zwei Nanas garnierte «Teufel» (Le diable) aus dem Jahr 1986.
Das Werk «Cyclop» entsteht in Anlehnung an die gleichnamige Monumentalskulptur, die Tinguely und Niki im Wald von Milly-la-Fôret in Paris aufbauen: Sie ist 22 Meter hoch und 350 Tonnen schwer. Die in Aarau ausgestellte Skulptur ist etwas handlicher. Aber auch an dieser war Nikis Gatte Jean Tinguely mit seiner «sinnlosen Mechanik» beteiligt.
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Josef Felix Müller (1955). Figur mit Tier, 1984. Aargauer Kunsthaus Aarau. |
1984: Josef Felix Müllers Schmusepaar
Eine Skulptur in der Ausstellung, die man nicht übersehen kann. Sie stammt vom St. Galler Künstler Josef Felix Müller. Dieser beginnt den 1980er-Jahren mit der Fertigung von Holzskulpturen, die er mit einer Motorsäge bearbeitet. Meist sind es bemalte Figuren von Männern oder Paaren.
Dieses bunte Paar (Figur mit Tier) hebt sich davon doppelt ab: Erstens ist es keine Holzskulptur, sondern ein Werk aus bespraytem teufener Sandstein. Zweitens wird die surreal dargestellte kopflose menschliche Figur (mit vier abgetrennten Köpfen zu Füssen) von einer Art Krokodil mit Menschenkörper umart – zärtlich und liebevoll, vielleicht auch tröstend.
Josef Felix Müller ist nicht nur Bildhauer und Maler, sondern auch Verleger von Kunstbüchern und seit 2014 Präsident von Visarte, dem Berufsverband der visuell schaffenden Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz.
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Sylvie Fleury (1961). Mushroom (BC T 500 Gemini 0006), 2005. Fiberglas. Galerie Thaddaeus Ropac London.
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2005: Sylvie Fleurys Traumpilz
Die 1961 in Genf geborene Künstlerin befasst sich mit Performance- und Objektkunst. Sie besucht im Alter von 20 Jahren die Germain School of Photography in New York und lernt dann in Indien Bharatanatyam-Tanz.
1990 startet sie mit künstlerischen Arbeiten. Ihre erste: Sie stellt zehn Einkaufstüten aus, prall voll mit Luxusartikeln. 2004 gründet sie mit dem Genfer Performancekünstler John Armleder und dessen Sohn Stéphane ein Plattenlabel. 2018 wird sie mit dem Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet.
Ihr Flair für Luxus zeigt sie auch in ihrer Arbeit «Mushroom»: Sie macht aus einem gewöhnlichen Pilz ein das Auge erfreuendes und in prächtigen Farben leuchtendes Kunstwerk, unter das man sich stellen kann.
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Urs Lüthi (1947). Selbstporträt (Tränen), 2020. Kunsthaus Aarau. |
2020: Urs Lüthi – die Selbstdarstellung
Der Luzerner besucht die Kunstgewerbeschule in Zürich und arbeitet ab 1965 als freier Künstler. Schon 1971 macht er mit fotografischen Selbstdarstellungen Furore: Einmal als weiblicher Vamp, dann mit Lederschlangen-Sakko und mit Tränen in den Augen.
Die Tränen lässt er auch in seiner neuesten 3D-Selbstinszenierung fliessen. Sein lebensecht wirkender Körper (allein schon die Hautstruktur ist ein Kunstwerk) steckt in einer Ein-Mann-Sauna und seine Augen tränen.
Lüthis Werke werden auch im Centre Pompidou in Paris und in der Hamburger Kunsthalle gezeigt. 2009 erhält er an der Documenta in Kassel den Arnold-Bolde-Preis; 2010 den Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern.
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Fotos Ausstellung CH-Skulpturen ab 1945 |