Natalja Gontscharowa (1881-1962)


Natalja Gontscharowa gilt heute als eine der bedeutendsten Künstlerinnen der russischen

Avantgarde. Sie war jahrzehntelang auch in Paris aktiv.

 

 

Natalja Gontscharowa, Selbstporträt

mit 26 Jahren. Tretjakow-Galerie, Moskau.

 

 

Ihr genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Sie kommt im Sommer 1881 zur Welt (das Geburtsjahr von Picasso) – in einem Dorf namens Nagajewo in Zentralrussland rund 200 km südlich von Moskau. Ihr Vater Sergej ist nicht nur Architekt, sondern auch Absolvent des Moskauer Institutes für Malerei und Bildhauerei.

 

1892 zient Gontscharowa nach Moskau und besucht dort das Mädchengymnasium, das sie 1898 abschliesst und dann mit dem Studium von Geschichte, Zoologie, Botanik und Medizin beginnt. 1901 ist sie an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur eingeschrieben, in dieser Zeit studiert sie auch noch Bildhauerei.

 

In dieser Phase trifft sie auf den gleichaltrigen Künstler Michail Larionow, ihren späteren Lebensgefährten. Dieser empfiehlt ihr, die Bildhauerei zugunsten der Malerei aufzugeben. Larionow (1881-1864) wird ihr wichtigster Förderer und Lehrer. Die beiden ziehen zusammen, ohne aber eine Heirat zu planen. Sie leben als Künstlerpaar und als solches zählen sie zu den führenden Kreativen der russischen Avantgarde.

 

 

Michail Larionow (1881-1964). Natalja
Gontscharowa schlafend, 1908-10.

Albertina Wien, Sammlung Batliner.


 

Es heisst, Natalja Gontscharowa habe es blendend verstanden, ihren Charme und ihre körperlichen Reize einzusetzen. Sie wird als leidenschaftlich beschrieben. Zudem soll sie in heissen Diskussionen über Kunst ihre Gesellschaften mit ihrer direkten Art gerne geschockt haben.

 

Schon in ihren frühen Werken experimentiert sie mit westlichen Malstilen. Um 1905 haben es ihr der französische Impressionismus und der Pointillismus besonders angetan.

 

Sie durchläuft auch eine Phase der Naiven Malerei und beschäftigt sich mit der russischen Volkskunst. 1910 werden ihre Werke in St. Petersburg und Riga gezeigt.

 

1910 kommt in Moskau heftige Kritik an ihren Werken auf. Ihre Bilder von Heiligen in avantgardistischem Stil werden als Blasphemie verstanden. Sie werden aus einer Ausstellung verbannt und Gontscharowa wird angeklagt und vor Gericht gestellt.

 

Um 1912 herum entwickelt das Künstlerpaar Gontscharowa/Larionow den «russischen Rayonismus», der einen Weg sucht, Energie und Licht darzustellen.

 

1914 arbeiten Gontscharowa und Larionow in Paris an Bühnenbildern und Kostümen für die Ballets Russes von Sergei Djagilew. Das Pariser Publikum feiert ihre spektakulären Kreationen.

 

Noch im gleichen Jahr (1914) organisiert die Galerie Paul Guillaume eine gross angelegte Retrospektive des Künstlerpaars Gontscharowa/Larionow.

 

Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, müssen die zwei überstürzt nach Russland reisen. Larionow wird ins Militär eingezogen und erleidet dort eine Verwundung.

 

1918 lassen sich Gontscharowa/Larionow definitiv in Paris nieder. Hier beschäftigten sie sich mit Theaterprojekten, er mit Installationen, sie mit Malerei.

 

Ihre private Beziehung kühlt sich in Paris nach und nach ab und wird beendet – die beiden bleiben aber als kreatives Künstlerpaar zusammen. Schliesslich heiraten sie sogar noch – aber erst 1955, da stehen beide bereits in ihrem 75. Lebensjahr. Es heisst, die Ehe sei nur noch geschlossen worden, «um ihr gemeinsames künstlerisches Erbe zu sichern».

 

In Gontscharowas Spätwerk blitzt noch eine kurze abstrakte Phase auf, in der sie kosmische Kompositionen malt, die von der spektaklären Sputnik-Erdumkreisung im Jahr 1957 inspiriert sind.

 

In ihren letzten Jahren leidet Natalja Gontscharowa an rheumatischer Arthrose und ist nahezu gelähmt, als sie am 17. Oktober 1962 im Alter von 81 Jahren in Paris stirbt. Larionow stirbt zwei Jahre später, ebenfalls in Paris.

 

 

 

 

Titelbild (Ausschnitt)

Natalja Gontscharowa (1881-1962).

Flusslandschaft, 1909-11. Kunsthaus Zürich.
Sammlung Merzbacher.


 

 

 

Andere russische Künstler:innen

 

>Marc Chagall

>Alexandra Exter

>Alexej von Jawlensky

>Wassili Kandinsky

>Kasimir Malewitsch

>Pavel Pepperstein

>Ilja Repin

>Marianne Werefkin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Natalja Gontscharowa
um 1912.

 

 

 

Michail Larionow
um 1915.

 

 

Das Künstlerpaar Gontscharowa/Larionow

 

Das berühmteste Künstlerpaar der russischen Avantgarde, das fast ein Leben lang zusammen kreativ ist. Sie haben den selben Jahrgang (1881) und lernen sich um 1900 herum in Moskau kennen. Larionow ist es, der Gontscharowa davon überzeugt, von der Bildhauerei auf Malerei umzustellen. Larionow wird ihr wichtigster Lehrer – und Förderer. Ab 1910 leben sie zusammen – haben aber keine Hochzeitspläne. 1914 entwirft das Künstlerpaar in Paris Bühnenbilder und Kostüme für die Ballets Russes von Sergei Djagilew. 1918 lassen sie sich definitiv in Paris nieder. Erst im Jahr 1955 – da stehen beide im 75. Lebensjahr – heiraten sie noch.

 

Michail Larionow (1881-1964) studiert bis 1910 an der Moskauer Hochschule Malerei, Bildhauerei und Architektur. Einer seiner Freunde trägt heute einen berühmten Namen: >Kasimir Malewitsch.

 

Zunächst beschäftigt sich Larionow mit dem Impressionismus, experimentiert dann aber auch mit dem Fauvismus. Er wird zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der russischen Avantgarde und gilt als der Begründer des Rayonismus.

 

 

 

Natalja
Gontscharowa (1881-1962). Rayonistische Lilien, 1913. Kunstmuseum Perm.

 

Rayonismus – was ist das?

 

Beeinflusst vom >futuristischen Manifest des italienischen Kunsttheoretikers Marinetti von 1909 verfasst Michail Larionow 1913 das
«Manifest des Rayonismus»
.

 

In diesem spricht er sich für die Darstellung einer vierten Dimension aus, des Lichtes. Larionow experimentiert von 1910 bis 1914 mit Lichtbündeln und zerlegt Objekte – ähnlich dem >Kubismus – in Farbstrahl-Kompositionen. Damit soll die Energie dargestellt werden. Ziel ist es, ein Gefühl für die «vierte Dimension» zu entwickeln.

 

Larionow und Gontscharowa malen jetzt Bilder, die Gegenstände in abstrakte Strahlendiagramme verwandeln. Weil Strahl (rayon) auf russisch «lutsch» heisst, werden die Rayonisten auch Lutschisten genannt.

 

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Bauern in Landschaft, 1905. Wikiart.

 

 

Französische Malstile als Vorbilder

 

Im Haus des Moskauer Kunstsammlers Sergej Schtschukin kommt Natalja Gontscharowa mit Werken von Monet, Cézanne, Picasso, Gauguin, van Gogh und Matisse in Kontakt – und beginnt sofort, sich für deren Malstile zu interessieren. Schon in ihren frühen Werken experimentiert sie mit dem französischen Impressionismus und dem Pointillismus.

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Getreideernte, 1910. Wikiart.

 

Avantgardistische Volkskunst

 

Sie durchläuft auch eine Phase der Naiven Malerei und beschäftigt sich mit der russischen Volkskunst. 1910 werden ihre Werke in St. Petersburg und Riga ausgestellt.

 

Gontscharowa beteiligt sich auch an der «Union der Jugend», einer Vereinigung progressiver Künstler in St. Petersburg. Diese verfolgt die Kunstentwicklung in Deutschland aufmerksam, vor allem die Künstler der >Brücke wie Kirchner, Pechstein, Heckel und van Dongen.

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Der heilige Andreas, 1910. Wikiart.

 

Blasphemisches um den Heiligen Andreas

 

Andreas ist der Nationalheilige der Russen und der Ukrainer. Das Volk kennt ihn von ikonischen Bildern, wie sie seit Jahrhunderten gemalt werden. Und nun präsentiert Natalja Gontscharowa solche avantgardistischen Darstellungen des Heiligen.

 

Das erregt um 1910 öffentliche Kritik und beschert der Künstlerin ein Gerichtsverfahren wegen Blasphemie und Pornografie, zumal sie auch Jesus, Maria und die vier Evangelisten in ähnlicher Form darstellt. Ihre Arbeiten werden konfisziert und auf den Index gesetzt.

 

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Radfahrer, 1913. Wikiart.

 

Kubofuturismus – was ist das?

 

Es ist eine russische Stilrichtung, die um 1912 herum aus der Zusammenfügung von >Kubismus und >Futurismus entstanden ist. Typisch für den neuen Stil ist die Aufgliederung von Gegenständen oder menschlichen Körpern in zylindrische Formelemente. Der Futurismus hat sich u.a. der Abbildung von Geschwindigkeit verschrieben. Einer der eifrigsten Verfechter des Kubofuturimus ist >Malewitsch, aber auch Gontscharowa versucht sich darin, so wie sie mit vielen anderen Stilen experimentiert.

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Flusslandschaft, 1909-11. Kunsthaus Zürich. Sammlung Merzbacher.

 

Expressive Volkskunst

 

Mit Werken des französischen Expressionismus und des Fauvismus kommt Natalja Gontscharowa schon in Moskau in Berührung: im Haus des Kunstsammlers Sergej Schtschukin, der eine ganze Kollektion von französischen Modernen besitzt.

 

In diesem Gemälde von 1909-1911, das den Titel Flusslandschaft trägt, bringt die Künstlerin russische Volkskunst und Neoprimitivismus unter einen Hut. Kein Wunder, dass dieses farbenfrohe Werk in der Kollektion von >Werner Merzbacher gelandet ist. Der Zürcher Kunstsammler ist dafür bekannt, nur farbstarke Werke zu kaufen.

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Kostümentwurf, 1914. Wikiart.

 

Paris: Theaterkostüme

 

Gontscharowa und Larionow reisen 1914 nach Paris, um dort ihre Kreationen für Bühnenbilder für die Ballets-Russes-Produktion von Sergei Djagilew «Le Coq d´Or» an der Paris Oper vorzustellen. Ihre farbigen folkloristischen Kostüme kommen beim Pariser Publikum sehr gut an.

 

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 müssen die beiden in ihre Heimat nach Russland zurück. Larionow wird ins Militär eingezogen.

 

1915 beginnt Gontscharowa auch in Genf, Kostüme und Bühnenbilder zu entwerfen.

 

1918 ziehen Gontscharowa und Larionow definitiv nach Paris. Ihre erfolgreiche Arbeit für Theater und Bühne in Paris machen Gontscharowa so bekannt, dass sie als Bühnenbildnerin auch in New York, Lateinamerika, London und Russland engagiert wird.

 

 

Natalja Gontscharowa (1881-1962). Herbstabend, 1922-1928. WikiartFairUse.
 

 

Der frei interpretierte Kubismus

 

Als dieses Gemälde entsteht, ist Gontscharowa bereits seit ein paar Jahren in Paris zuhause. Inzwischen kennt sie die ganze Palette der französischen Malstile. Sie lässt sich von diesen beeinflussen, präsentiert dann aber auch ihre eigenen Kreationen wie dieses Beispiel Herbstabend, das zwischen 1922 und 1928 entstanden ist.

 

Die Dreiergruppe mit Hund kommt in einem Stil daher, der an den Kubismus erinnert, übernimmt dessen Charaktereigenschaften aber nicht wirklich. Kein Zerstückeln und wieder Zusammensetzen, sondern eine bemerkenswerte Komposition zu einem kompakten «Familienbild».