Ausstellung «Les Années Fauves»,

Fondation Gianadda, Martigny, 7.7.23 - 21.1.2024.

 

 

Hommage an die «wilden Bestien»

 

 

Ausstellungsplakat

 

 

Am Anfang steht ein Skandal. Da stellen junge Künstler Werke aus, über die Kunstexperten nur den Kopf schütteln. Es sind Gemälde, die so gar nichts mit der herkömmlichen akademischen Malschule gemein haben. Grob hingepinselte Farbkleckse in unnatürlichen Farben, ohne jede Liebe zum Detail. Für Sachverständige muss das wie ein Geschmiere gewirkt haben. Und für einen der Kritiker waren diese Künstler «fauves», wilde Bestien. Der Kunstkritiker, der diesen Ausdruck geprägt hat, ist heute fast so berühmt wie die Künstler selbst: Louis Vauxelles.

 

Nun bietet die Fondation >Pierre Gianadda in Martigny diesen wilden Bestien mit der Ausstellung «Les Années Fauves» eine Plattform, wie man sie noch nicht gesehen hat. Vor allem zeigt die Ausstellung auf, dass neben den berühmten Grössen des Fauvismus Matisse und Derain eine Vielzahl von Künstlern in dieser kurzen Epoche (von 1905 bis etwa 1908) in ähnlichem Stil unterwegs war. Einige nicht ganz so «fauve», aber doch bestrebt, die akademische Malerei hinter sich zu lassen und neue Wege zu gehen.

 

 

Eingang zur Fondation Gianadda

 

Im Innern des Kunstmuseums

 

Präsentation der Werke

 

 

Die Fondation Gianadda bietet die einmalige Gelegenheit, auch weniger bekannte Künstler kennen zu lernen. Allerdings: Nicht alle der gezeigten Werke können dem Fauvismus zugeordnet werden. Weder vom Stil her noch von der Zeit – die Ausstellung zeigt auch Werke, die weit vor der Fauves-Phase enstanden sind, einige auch deutlich danach. Konkret: Nicht alles, was hier gezeigt wird, ist fauvistisch.

 

Organisiert wird die Ausstellung in Zusammenarbeit mit berühmten französischen Museen wie das Centre Pompidou Paris (heute Musée d'Art Moderne), das Paul Dini Museum in Villefranche-sur-Saône und das Musée des Beaux-Arts in Bordeaux.

 

 

 

Henri Manguin (1874-1949).

La Femme à la Grappe, Villa
Demière, 1905. Fondation

Gianadda Martigny.

 

Georges Rouault (1871-1958).

Nu aux jarretières rouges, 1906.

Centre Pompidou Paris.

 

 

 

 

>mehr über die Fondation Pierre Gianadda

 

 

 

Titelbild (Ausschnitt)

Raoul Dufy (1877-1953). Les régates,

1907-08. Centre Pompidou Paris.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Henri Matisse (1869-1954). La fenêtre ouverte à Collioure, 1905. Musée du Luxembourg, Paris.

 

André Derain (1880-1954). Paysdage de Collioure, 1905. National Gallery of Art Washington.

 

Maurice de Vlaminck (1876-1958). Restaurant de la Machine at Bougival, 1905.

 

 
Hinweis: Diese drei Werke aus dem Jahr 1905 sind an der Ausstellung nicht zu sehen.

 

 

Collioure – Geburtsort des Fauvismus

 

1905 verbringen >Henri Matisse und >André Derain den Sommer zusammen am untersten Zipfel von Südfrankreich, fast an der Grenze zu Spanien, in >Collioure.

 

In diesem lauschigen Fischerdörfchen lassen sie ihrer Lust auf unbekümmertes Malen freien Lauf. Wilde, erfundene Farben, ohne Perspektiven nach Lehrbuch, einfach alles losgelöst von herkömmlichen akademischen Vorgaben.

 

Zu gleicher Zeit arbeiten Manguin, Marquet und Camoin an der Côte d'Azur. Als Marquet die Collioure-Werke sieht, sagt er: «Sie haben erstaunliche Dinge geleistet».


Die im Sommer 1905 in Collioure enstandenen Werke werden noch – zusammen mit anderen Künstlern – im gleichen Jahr am Pariser «Salon d'Automne» ausgestellt, vom 18. Oktober bis 25. November. Sie verursachen Kopfschütteln und einen Skandal.

 

Als der Pariser Kunstkritiker Louis Vauxelles am Salon d'Automne 1905 eine weibliche Büste in florentinischer Art stehen sieht – geschaffen vom französischen Bildhauer Albert Marquet – prägt er den berühmten Satz: «Seht nur, Donatello unter den Fauves! (wilde Bestien)». Mit dieser Aussage, eigentlich als harsche Kritik gedacht, prägt er den Begriff Fauvismus.

 

Aber nicht alle sind entsetzt vom neuen wilden Malstil. Kunstkenner und Kunsthändler erkennen rasch die Bedeutung dieses neuen Stils. Dazu gehören die Familie Stein – David und Gertrud Stein – und der Kunsthändler Ambroise Vollard.

 

Letzterer erwirbt noch im gleichen Jahr die gesamte Werkstatt von Jean Puy und André Derain. 1906 kauft er auch die Werke von Maurice de Vlaminck und Henri Manguin. Damit macht sich Vollard zum wichtigsten Händler fauvistischer Maler. Er sorgt für den Vertrieb ihrer Werke in Frankreich und im Ausland.

 

 

>mehr über Collioure

 

 

Raoul Dufy (1877-1953). Paysage de Provence, 1905. Centre Pompidou Paris.

 

Robert Delaunay (1885-1941). Paysage aux vaches, 1906. Centre Pompidou Paris.

 

Louis Valtat (1869-1952). Le Bateau-Mouche, 1905. Collection privée, Suisse.

 

 

 

Mehr als Matisse und Derain...

 

Zur gleichen Zeit, um 1905, als Matisse und Derain in Collioure den Fauvismus «erfinden», lösen sich auch zahlreiche andere Künstler vom akademischen Stil und gehen ihre eigenen Wege.

 

Eines der Lieblingsthemen der Fauves sind die Landschaften Südfrankreichs mit ihrem – wie es heisst – «ganz besonderen Licht». Nun geht es aber nicht mehr darum, die Dinge so abzubilden, wie sie in der Natur vorkommen. Die Künstler fühlen sich jetzt frei, Farben frei zu erfinden – oder anders ausgedrückt: Sie malen so, wie sie die Farben sehen.

 

Ein weiteres Merkmal des Fauvismus ist auch die Freiheit der Künstler, sich nicht mehr um Details zu kümmern. Nun reichen grobe Striche oder Farbkleckse, um Dinge abzubilden.

 

Zudem spielt die Zentralperspektive keine Rolle mehr – im Bild oben von Raoul Dufy gut zu zu sehen. Man erkennt gerade noch, dass es so etwas wie einen Hintergrund gibt (Abbildung von kleinen Bäumen am oberen Rand), aber eigentlich liegt alles auf einer Ebene.

 

Die beiden Werke von Robert Delaunay und von Louis Valtat sind zwar in der Epoche des Fauvismus (1905 bis etwa 1909) entstanden, sind aber eher dem >Divsionismus/Pointillismus zuzuordnen. Bei Valtat sind zudem die verwendeten Farben nicht «fauves», sondern eher der Natur entsprechend.

 

 

André Derain (1880-1954). Baigneuses, 1908. Centre Pompidou Paris.

 

Kes van Dongen (1877-1968). Nu
à la corbeille de fleurs, 1908. Centre Pompidou Paris.

 

Charles Camoin (1879-1965). La fille endormie, 1905. Centre Pompidou Paris.

 

Emile Othon Friesz (1879-1949). Le printemps, 1908. Centre Pompidou Paris.

 

Die Lust auf nackte Haut

 

In den «Années Fauves» (1905 bis ca. 1909) zeigen die Künstler eine ausgesprochene Freude an nackten Darstellungen – auch wenn nicht alle im Stil des Fauvismus daher kommen. Die «Badenden» von André Derain erinnern im Stil eher an >Cézanne (zum Beispiel die schwarzen Konturen) und wirken abstrakt. «Fauvistisch» ist aber die emotionale Dimension der Szene, sie weicht deutlich von der «Natur» ab. Der geometrische Ansatz kündigt bereits den aufkommenden >Kubismus an.

 

Verwirklichung von Träumen

 

«Was ich male, ist oft die Verwirklichung eines Traums oder einer Obsession», erklärt der in Rotterdam geborene Kees van Dongen. Das Thema Frauen nimmt einen grossen Raum ein in seiner Phase von 1907 bis 1912. Als er um 1900 in Paris zu arbeiten beginnt, holt er sich seine Ideen für Akte bei Degas und Toulouse-Lautrec. Seine Modelle zeichnen sich durch schlanke Körper und grosse Augen aus.


Beim «Fille endormie» von Charles Camoin ist die Vorlage unschwer zu erkennen. Er orientiert sich am Grossmeister des Realismus >Gustave Courbet und
dessen «Origine du monde» von 1866. Das Gemälde fällt zwar in die Phase der Fauves und weist einige Merkmale des Fauvismus auf (zum Beispiel grobe Pinselstriche mit wenig Details), wirkt aber fast so realistisch wie Courbets Skandalbild.

 

Auch die Nackedeien von Emile Othon Friesz sind in der Phase des Fauvismus entstanden. Fauvistisch ist aber nur die Landschaft mit grob angedeutetem Baumwerk und erfundenen Blütenfarben.

 

Die nackten Figuren selbst sind dagegen ziemlich «real» geraten und relativ detailliert ausgearbeitet. Wie schon bei Derain (Bild oben), übernimmt auch Friesz die dunklen Konturen von Paul Cézannes Darstellungen seiner Badenden. Bemerkenswert ist die Verspieltheit der Paare und die Lebensfreude, die die Frühlingsszene versprüht.

 

 

Jean Puy (1876-1960). Plat avec décor de quatre torses de femme, 1907-09. Centre Pompidou Paris.

 

Georges Rouault (1871-1958). Vase à décor de trois femmes au bord de l'eau, 1907. Centre Pompidou Paris.

 

Kes van Dongen (1877-1968).
Plat à décor de trois baigneuses, 1907-09. Centre Pompidou Paris.
 

 

Keramikarbeiten in der Fauvisten-Phase

 

Dass es den Fauves nicht nur um Schönheit ging, sondern auch um Nützlichkeit im Alltag, zeigen die Teller, Schüsseln und Vasen. Autoren sind Georges Rouault, Maurice de Vlaminck, Jean Puy, Kees van Dongen, André Derain und Henri Matisse.


Viele dieser Keramikarbeiten zeigen weibliche
Silhouetten – in der Mehrheit nackt dargestellt. Gewissermassen als Symbol der Freiheit und des individuellen Ausdrucks, der den Fauvisten am Herzen lag.

 

Den Teller von Jean Puy (1876-1960) ziehren vier gelbe nackte Frauenfiguren am Rand, während das Zentrum von vier blau gemalten Frauenkörpern gebildet wird, die ineinander verschmolzen sind. Puy war mit Matisse und Derain befreundet und schloss sich schon 1905 den Fauves an.

 

Georges Rouault (1871-1958) ist in der Ausstellung gut vertreten. Mit Gemälden, Aquarellen, Arabesken und bemalten Vasen (mehr in der >Fotogalerie). Auffällig: Alle an der Ausstellung gezeigten Werke von Rouault zeigen nackte Frauen. Auch seine grosse Vase bildet nackte Frauen ab – gleich drei davon. Allerdings scheint seine «Frauenphase» nicht lange gedauert zu haben. Nach der Fauves-Zeit ab 1910 spezialisierte sich der Künstler auf moderne religiöse Malerei.

 

Der bemalte Teller von Kees van Dongen
(1877-1968) besticht durch klare Linien der drei stilisierten nackten weiblichen Silhouetten, die sich von Blau- und Gelbtönen vom Hintergrund lösen. Die Gesichter der Frauen sind nur durch ganz wenige, kleine Striche individualisiert, strahlen aber dennoch Charakter und eine bemerkenswert wohltuende Ruhe aus.

 

 

 

Fotogalerie «Les Années Fauves»

>Dokumentation «Les Années Fauves» (PDF)

 

>mehr über den Fauvismus

 

>Ausstellung Kunstmuseum Basel: Avantgarde 1904-1908