Was für ein Vergnügen, seine monumentalen Fantasie-Kompositionen zu «bewandern»! Hinter jedem Busch wartet eine Überraschung. Frei erfundene Paradiesblumen, eine liebliche Fauna und Löwen, die an Frauen schnuppern. Es sind Werke, die zum Schmunzeln verleiten und gute Laune machen. Henri Rousseau ist ein Meister der Naiven Kunst.
Henri Rousseau «Le Douanier»,
Selbstporträt, 1902-03.
Musée Picasso, Paris.
Henri Rousseau kommt 1844 als Sohn eines Pariser Eisenwarenhändlers zur Welt. Eigentlich interessiert er sich für Dichtung und Musik. Im Militär dient in einem Infanterieregiment als Klarinettist. Danach arbeitet er als Beamter bei der Zollbehörde – von dort stammt auch sein Nickname «der Zöllner», «le douanier».
1869 heiratet er die 18-jährige Schneiderin Clémence Boitard, mit der er neun Kinder hat. Etwa um 1884 herum beginnt er zu malen – als Autodidakt. Da ist er bereits 40 Jahre alt. Ein Schriftsteller ist es, der als Erster die Qualität seiner Bilder entdeckt: Alfred Jarry. Durch diesen lernt er auch >Paul Gauguin kennen und dann in dessen Atelier >Edgar Degas.
Besonders wichtig für Rousseaus weitere Entwicklung ist aber seine freundschaftliche Beziehung zum Dichter und Kunstkritiker >Guillaume Apollinaire. Durch ihn bekommt er einen Bezug zur künstlerischen Avantgarde. So trifft er u.a. auf Robert Delaunay, Pablo Picasso, Georges Braque, Maurice de Vlaminck, Constantin Brancusi und Marie Laurencin.
Rousseau bleibt zeitlebens Autodidakt, obwohl er gerne in die Académie Française aufgenommen worden wäre. Das schafft er nicht – dafür wird er später zum Helden der Avantgardemaler des frühen 20. Jahrhunderts, anerkannt von vielen Künstlern seiner Zeit.
Auf Anregung seiner Freunde verlässt er seine Stelle als Zollbeamter und zeigt ab 1886 seine eigenwilligen naiven Werke regelmässig am >Salon des Indépendants. Jetzt ist er zwar Profi, aber mit seiner Malerei verdient er nicht genug Geld. Also erteilt er nebenbei auch noch Violinunterricht, um sich über die Runden zu bringen.
«Le Rêve» von 1910, diese Fantasie eines Urwaldes, ist sein erstes Werk, das ihm Anerkennung und Erfolg bringt – wenn auch nicht in finanzieller Hinsicht. Reich wird er nie.
Er stirbt noch im gleichen Jahr am 2. September 1910 an einer Blutvergiftung und wird in einem Armengrab beerdigt. Das Aufgebot der Trauergäste ist bescheiden: Es sollen ganze sieben Leute an seinem Grab anwesend gewesen sein, darunter immerhin einige mit (heute) klingenden Namen: Guillaume Apollinaire, die Maler Robert Delaunay, Paul Signac und der rumänische Bildhauer Brancusi.
Heute sind Rousseaus naive Werke Millionen
wert. Das Gemälde «Les Flamants» (die Flamingos) von 1910 ging am 11. Mai 2023 bei einer Auktion von Christie's in New York für sagenhafte 43,5 Millionen Dollar an einen unbekannten Sammler.
Titelbild (Ausschnitt)
Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910).
Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope, 1898-1905. Fondation Beyeler, Riehen-Basel.
>Naive Kunst und Neue Sachlichkeit
>mehr über visionäre Sachlichkeit
Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). Die Muse und der Dichter, 1909. Kunst-museum Basel.
Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). Nude and Bear, 1901. Barnes Foundation Philadelphia.
Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). Pour fêter
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Was ist Naive Kunst?
Der Begriff stammt aus den 1920er-Jahren und wurde von einem deutschen Kunstkritiker und Kunsthändler in Paris geprägt: Wilhelm Uhde (1874-1947). Er verfasste mehrere Bücher über Kunst und gilt auch als der «Entdecker» von Henri Rousseau und weiteren Vertretern der naiven Malerei.
Wie definiert sich naive Malerei? Sie wird oft zusammen mit Begriffen wie Art brut («rohe Kunst») oder «Outsider Art» genannt, hat aber ihre eigene Definition: Sie betrifft Kunstwerke von autodidakten Künstlern, die keine akademische Schulung durchlaufen haben und deshalb als «ungebildet» gelten. Naive Werke kommen oft in einer fast kindlichen, einfachen Bildsprache daher, flach und meist ohne Perspektive, oft in traumhafter Form.
Schweizer Künstler >Adolf Dietrich >Hans Krüsi
Naive Kunst oder Art brut?
Als Begründer der Art brut gilt der Franzose
Dubuffet betrachtete seine Wortschöfpung «Art brut» als sein geistiges Eigentum und beanspruchte das Recht zu bestimmen, was als «Art brut» zu gelten hat. Er weitete sie aus und wollte sie so verstanden wissen, dass sie nicht nur Anwendung auf Werke von Geistesgestörten findet, sondern generell für Kunst «jenseits der etablierten Norm» – geschaffen von Ungebildeten, von Laien und von Autodidakten.
Gemäss Dubuffet würde in diese Kategorie also auch die naive Kunst des Henri Rousseau gehören. Nun sind aber Rousseaus Gemälde nicht «brut» (roh), sondern liebevoll gemalt und bis ins letzte Detail akribisch ausgearbeitet. Vielleicht könnte man Rousseaus Kunst auch kindlichen Primitivismus nennen – «Art brut» ist es aber sicher nicht.
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Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). Der hungrige Löwe
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Die kindlich-naive Sicht auf den Urwald
Dieses 200 x 300 cm grosse Ölgemälde erfüllt alle Kriterien für die Stilrichtung Naive Kunst: Es wurde von einem Laienkünstler gemalt (Henri Rousseau), weist eine einfache, fast kindliche Bildsprache auf und zeigt eine fantasievolle Traumwelt.
Kurz nach seiner Entstehung kauft es der Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard 1906 direkt vom Künstler. Dann gelangt es 1936 in die Hände des Zürcher Kunstsammlers Dr. Franz Meyer (1889-1962). Dessen Erben geben das Gemälde 1969 als Dauerleihgabe ans Kunstmuseum Basel. Seit 1988 gehört es in die Sammlung Beyeler und ist dort heute noch zu sehen.
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Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). Portrait de femme, 1895. Musée Picasso Paris.
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Das Bild, das ihm Picasso abkauft
1908 veranstaltet Pablo Picasso im berühmten Künstlerhaus auf dem Hügel von Montmartre in Paris, dem «Bateau-Lavoir», ein Bankett zugunsten von Henri Rousseau. Bei diesem Anlass soll der grosse Meister dem «Laienmaler Rousseau» dieses Bild abgekauft haben – für fünf Franc.
Picasso war einer der Bewohner von Bateau-Lavoir.
Weitere Bewohner waren Kees van Dongen, Otto >Freundlich, Juan Gris und >Amedeo Modigliani. Das Bateau-Lavoir war auch ein Treffpunkt der Avantgarde, zum Beispiel >Guillaume Apollinaire, Georges Braque, >Henri Matisse oder Jean Cocteau.
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Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). The Sleeping Gypsy, 1897. Museum of Modern Art, New York. |
Die schlafende Zigeunerin und der Löwe
Wie viele Künstler seiner Zeit ist auch Rousseau von den Roma fasziniert. Man nennt diese Randständigen in Paris «Bohémiens». In seinem Werk «The sleeping Gypsy» aus dem Jahr 1897 zeigt er eine im Mondlicht am Boden liegende dunkelhäutige Frau mit Mandoline und Wasserkrug. Ein Löwe schnuppert an ihrer Schulter.
Es ist Naive Kunst vom Feinsten: Einfache Formen, eine traumhafte, exotische Atmosphäre, plakative Farben flächig aufgetragen, akribisch bis ins letzte Detail ausgearbeitet.
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Henri Rousseau «Le Douanier» (1844-1910). Le rêve, 1910. Museum of Modern Art, New York.
Detail. Die weisse Nackte im Urwald.
Detail. Fantasie-figur, Löwen und Fantasie-Flora. |
Von Urwald-Fantasien fasziniert
«Le Rêve» ist eines seiner letzten Werke. Es entsteht in seinem Todesjahr 1910 und ist eines von rund 25 Gemälden, die denen er den Urwald feiert. Das monumentale Werk misst 204 x 300 cm.
Der «Traum» ist einer Fantasie entsprungen. Rousseau soll behauptet haben, das Bild sei aufgrund persönlicher Erfahrungen entstanden. Er selbst habe an Expeditionen nach Mexiko teilgenommen, die in den 1860er-Jahren Kaiser >Napoleon III befohlen hatte, um dort Kaiser Maximilian zu Hilfe zu eilen.
Das ist pure Fantasie. In Wahrheit holt sich Rousseau seine Dschungel-Ideen im Pariser Naturkundemuseum, in den botanischen Gärten und Gewächshäusern sowie in Bildern aus populären Zeitschriften wie dem «Magasin Pittoresque».
Sein Dschungel-Traumbild wird ein paar Monate vor seinem Tod im >Salon des Independants ausgestellt (von März bis Mai 1910) und erhält jetzt – erstmals – von Kunstkritikern gute Noten.
Der bekannte Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard kauft den «Traum» noch an der Ausstellung 1910 und veräussert ihn dann 1934 an den amerikanischen Kunstsammler Sidney Janis (1896-1989), der auch Picasso, Dalì und Mondrian sammelt. Von Sidney Janis geht «Le Rêve» 1954 an Nelson A. Rockefeller, der das Gemälde dem Museum of Modern Art in New York schenkt, wo es auch heute noch zu sehen ist.
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Fotos / Diashow
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