Jeden Dienstag treffen sich über Mittag Kunstfans im Kunsthaus Zürich – und kompetente Expertinnen und Experten erläutern die Finessen einzelner Werke.

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Der Kurs findet zweimal jährlich statt. Im Frühjahr von März bis Juni, im Herbst von September bis Dezember. Je zwölf Wochen.

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Hinweis

Die Reports auf dieser Seite «Kunst über Mittag» sind keine «offiziellen Bildbesprechungen» der Referent:innen, sondern subjektive persönliche Wiedergaben des Gehörten, Gesehenen und Erlebten durch die Autor:innen von artfritz.ch.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kunst über Mittag 2024 im Kunsthaus Zürich

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Besprochene Werke 2024

Hermann Scherer (1893-1927). Totenklage, 1924-25. Kunsthaus Zürich.

 

 

Detail.

 

Detail.
 

 

 

>Details (PDF)

4. Juni 2024, Referentin Gabriele Lutz

Hermann Scherer (1893-1927). Totenklage, 1924-25.

 

Scherer kommt in Rümmingen/Lörrach in bäuerlichen Verhältnissen zur Welt. Mit der Schule hat er es nicht so, er möchte lieber handwerklich tätig sein. Mit 14 Jahren beginnt er eine Lehre als Steinmetz. Danach zieht er nach Basel, Köln und Koblenz. Die Kriegsjahre 1914-1918 verbringt er in Basel. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitet er als Assistent bei mehreren Basler Bildhauern, darunter auch >Carl Burckhardt.

1922 besucht er im Kunsthaus Zürich eine Munch-Ausstellung. Diese fasziniert ihn so, dass er beschliesst, Maler zu werden. Er beginnt mit expressionistischen Bildern. Dann kommt er in Kontakt zum deutschen Expressionisten >Ernst Ludwig Kirchner, der schon seit 1917 in der Schweiz lebt. Dieser lädt ihn zu einem längeren Aufenthalt zu sich nach Frauenkirch bei Davos ein – es entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden Künstlern. Scherer erlernt bei Kirchner die Technik der «taille directe», also die Verarbeitung von Baumstämmen zu Holzskulpturen. In der Phase von 1924 bis 1926 ist Scherer extrem produktiv. Er schafft in dieser Zeit mehr als zwanzig Holzskulpturen und über 100 Holzschnitte.

 

>mehr über Hermann Scherer

 

Die besprochene Holzskulptur Totenklage fertigt Scherer mit Beil und Messer direkt aus einem Lindenstamm. Sie entsteht zwischen Dezember 1924 und Februar 1925 im Atelier in Basel und gehört zu seinen bedeutendsten Werken. Seit 1997 ist sie im Kunsthaus Zürich.

 

Der Künstler bezieht sich dabei auf Darstellungen des christlichen Themas der Pietà – zum Beispiel auf den Isenheimer Altar in Colmar oder auf die Pietà Michelangelos im >Petersdom in Rom, die eine jugendliche Maria mit ihrem toten Sohn auf dem Schoss zeigt. Scherer geht ganz neue Wege und schafft ein hochformatiges Werk mit drei Personen (was sich auch durch die Form des Ausgangsmaterials, ein Baumstamm, aufdrängt).

 

In Scherers ikonografischem Werk ist Christus noch nicht tot – er ist erst im Sterben begriffen und in sich zusammen gesunken. Er wird von zwei mächtigen Händen gehalten, hat aber selbst noch die Kraft, seinen Kopf aufzurichten und der Person über ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Sind die beiden Figuren überhaupt Christus und Maria? Das ist keineswegs sicher – wahrscheinlicher ist, dass der Künstler das christliche Thema in ein weltliches Bild umgearbeitet hat – in eine «gewöhnliche» Totenklage, wie der Titel besagt.

 

Alice Bailly (1872-1938). Femme au miroir / Femme à la toilette, 1918. Sammlung
Dr. H.E. Mayenfisch, Kunsthaus Zürich.
 

Detail.

 

Selbstportrait, 1928. Stiftung KKG, Winterthur. Foto SIK-ISEA Philip Hitz.

 

Woll-Stickbild L'homme au coeur d'or, 1920. Portrait Werner Reinhart. Kunst Museum Winterthur.

 

>Details (PDF)

28. Mai 2024, Referentin Maya Karacsony

Alice Bailly (1872-1938). Femme au miroir/à la toilette, 1918.

 

Die in Genf geborene Künstlern besucht dort die «Töchterschule», die «Ecole des demoiselles des Beaux-Arts». Von 1902 bis 1904 ist sie im Wallis aktiv und fertigt dort vor allem kolorierte Holzschnitzerein. 1904 zieht sie nach Paris und ist dort mit Künstlern der «Colonie Suisse» unterwegs. Einer ihrer besten Freunde ist >Cuno Amiet, bei dem sie sich bis 1909 aufhält. Während ihre Frühwerke in naturalistischem Stil entstehen, befasst sie sich ab 1910 mit dem >Fauvismus, dem >Kubismus und dem italienischen >Futurismus. 1913 zeigt sie ihre kubistischen Arbeiten erstmals in Lausanne und dann in Genf im Musée Rath. In der Schweiz bezeichnet man sie als die «erste Kubistin».

 

Das besprochene Bild «Femme au miroir» aus dem Jahr 1918 weist kubistische Elemente auf, aber auch die hellen Farben des Fauvismus, zudem ist ein japanischer Einfluss zu erkennen: das Gemälde erinnert an japanische Farbholzschnitte. Es zeigt die intime Szene einer Frau bei der Toilette vor dem Spiegel, sie schminkt sich ihre Lippen. Diesen Genre nennt man auch >Intimismus. Vor allem Pierre Bonnard hat mehrere Werke in diesem Genre abgeliefert.

 

In der Zeit zum Ende des Ersten Weltkriegs hin (1918), hält sich Alice Bailly in der Schweiz auf und reist von Stadt zu Stadt – auf der Suche nach einer Bleibe und Unterstützung. Sie durchläuft eine finanziell schwierige Phase. Mehrere Kunstsammler und Freunde greifen ihr unter die Arme. Besonders zu Winterthur hat sie einen guten Draht. In der dortigen Villa Flora wird sie vom Sammlerpaar >Hedy und Arthur Hahnloser unterstützt.

 

Eine spezielle Beziehung hat sie zu Kunstmäzen Werner Reinhart. Bailly verliebt sich in ihn und möchte gerne mehr, aber dazu kommt es nicht. Werner Reinhart bleibt ihr aber freundschaftlich verbunden und unterstützt sie auch finanziell. Für ihren verehrten Werner fertigt Bailly ein Woll-Stickbild mit seinem Porträt. Titel: «L'homme au coeur d'or».

 

1920 kehrt Bailly nach Paris zurück. Sie kann dort zwar ausstellen, so im Salon d'Automne und im >Salon des Indépendants, aber ihre Werke lassen sich schwer verkaufen. Zudem leidet sie darunter, dass sie als Künstlerin nicht in die offziellen Künstler-Berufsverbände aufgenommen wird – es ist eine Männergesellschaft, in die sie nicht reinkommt. Einer ihrer grössten Gegner ist Ferdinand Hodler, der Zentralpräsident der Gesellschaft Schweizerischer Maler. Von ihm stammt der legendäre Spruch «Mir wei känner Wiiber». Bailly kontert mit «Kunst ist keine Frage von Rock oder Hose». Allerdings vergeblich.

 

1936, da ist sie schon 64-jährig, erhält sie einen prestigeträchtigen Auftrag der Stadt Lausanne: für Wandgemälde im Foyer des Stadttheaters. Sie ist zu diesem Zeitpunkt aber körperlich bereits geschwächt. Sie kann den Zyklus noch fertigstellen, stirbt aber am 1. Januar 1938 in ihrem Atelier in Lausanne.

 

>mehr über Alice Bailly

 

Giovanni Giacometti (1868-1933). Der Bildhauer (Annetta und Alberto), 1923. Alberto Giacometti-Stiftung, Kunsthaus Zürich.

 

Detail: Hand.

 

 

 

 

Alberto Giacometti (1901-1966). Selbstbildnis, 1921. Alberto Giacometti-Stiftung, Kunsthaus Zürich.

 

Alberto Giacometti
(1901-1966). Femme et Tête, 1965. Legat Bruno
Giacometti, Kunst-haus Zürich.

 

 

>Details (PDF)

21. Mai 2024, Referent Reto Bonifazi

Giovanni Giacometti (1868-1933). Der Bildhauer, 1923.

Alberto Giacometti (1901-1966). Selbstbildnis, 1921.

 

Zu Beginn seiner Malerkarriere arbeitete >Giovanni Giacometti noch im Stil des >Divisionismus/Pointillismus, also durch eine Trennung von Farben in einzelne Punkte oder Striche. Als er dieses Bild malte (1923), hatte er den Divisionismus bereits überwunden. Nun trug er die Farben expressiv auf, in Form von Farbflecken, die er nebeneinander setzte.

 

Auf eine detaillierte Ausführung verzichtete er, dennoch gelang es ihm, dem Gesicht der Hauptfigur (Alberto, rechts) einen starken Ausdruck zu verleihen. Man erkennt die Anspannung und Konzentration, mit der er sein Modell (Mutter Annetta) intensiv studiert, währenddem seine Hände mit der Formung der Plastik beschäftigt sind. Diese schaut er überhaupt nicht an – so, als würde er die Formen des erkundeten Gesichtes ganz automatisch auf die entstehende Skulptur übertragen. Der Bildhauer scheint zu «wissen», was seine Hände tun müssen.

 

Mutter Annetta, das Modell, sitzt vollkommen unbeweglich und wie versteinert da. Es ist überliefert, dass Sohn Alberto ihr dieses Verhalten so eingebläut hat. Er war es, der von ihr verlangte, sich beim Modellsitzen absolut nicht zu rühren. Vater Giovanni setzte das genau so ins Bild.

 

>wer ist Giovanni? wer ist Alberto?

 

Giovanni Giacometti malte dieses Bild, ohne es vorzuzeichnen. Er baute es – sehr gut erkennbar im Detail bei den Händen – auf Farbflecken auf. Für die lichten Stellen verwendete er helle Rosa-, Grün- und Gelbtöne, für die Schattenbildung einen ganzen Strauss von dunklen Farben: ein Braun-Rot, Violett, Braun, Blau und schwarze Striche. Damit erzeugte der Künstler die gewünschte Plastizität.

 

Als Giovanni Giacometti dieses Bild fertigte (1923), war er bereits 55-jährig und somit ein reifer Maler. Bis zu seinem Ableben 1933 blieb er dem Stil treu, in dem er dieses Werk schuf. Zum Divisionismus und zum Pointillismus kehrte er nie mehr zurück.

 

Als >Alberto Giacometti (Sohn von Giovanni) dieses Selbstbildnis malte, war er erst 20 Jahre alt. Die Ausführung entspricht aber bereits dem gereiften Stil seines Vaters. Für den Aufbau verwendete Alberto zwar auch Farbflecken, doch die Komposition erscheint deutlich moderner, obwohl die beiden Werke fast zur selben Zeit entstanden.

 

Sieht man sich die Farbflächen im Detail an (z.B. im Veston), so ist das Objekt kaum mehr erkennbar. Man sieht nur noch eine reiche Anzahl von Farbflecken in verschiedensten Farbtönen – es handelt sich fast schon um abstrakte Malerei. Betrachtet man das Gemälde dann aber aus der Distanz, verschmelzen die vielen Farben nicht nur zu einem Grundton (der Anzug erscheint jetzt aus der Entfernung betrachtet in einem blau-violetten Ton), sondern sie erzeugen durch die an den richtigen Stellen eingefügten Schattentöne auch noch eine gewisse Dreidimensionalität.

 

Alberto Giacomettis Werk «Femme et Tête» ist ein Jahr vor seinem Tod entstanden. Es gehört in die Kategorie Existenzielle Kunst.

>was ist «existenzielle Kunst»?

 

PS: Da war doch noch etwas: Ein kurzer Abstecher in die «schmelzende» und in die «erhabene» Kunst, wie sie Friedrich Schiller 1795 definiert hat.

 

>was ist «schmelzende» und «erhabene» Kunst?

 

Jan Provost (1462-1529). Anbetung der Könige zwischen den Heiligen Jacobus und Sebastian, 1500-1510. Kunsthaus Zürich.

 

Einst ein Triptychon, heute ein Gemälde im Rahmen.

 

 

Die Heiligen Jacobus und Sebastian.

 

 

>Details (PDF)

14. Mai 2024, Referent Daniel Näf

Jan Provost (1462-1529). Triptychon. Anbetung der Könige zwischen den Heiligen Jacobus und Sebastian, 1500-1510.

 

Einst war es wirklich ein Triptychon, dreiteilig und mit Scharnieren zum Auf- und Zuklappen. Aber nicht für eine Kirche gemacht, sondern für eine private häusliche Andacht bestimmt. Deshalb ist das Werk auch sehr klein. Die Mitteltafel misst nur 27 x 19 cm, die Seitentafeln je 27 x 7.5 cm. Gefertigt ist es in Tempera auf Eichenholz. In der Regel wurden solche Triptychone nur am Sonntag geöffnet, an den Werktagen war es geschlossen. Die Rückseite dürfte auch bemalt gewesen sein, wahrscheinlich als >Grisaille, also nur in Weiss, Schwarz und Grau.

 

Das Hauptbild (Mittelteil) zeigt eine >Anbetung der Könige. Der biblische Hintergrund dazu: Herodes ruft Weise zu sich und schickt diese dann nach Bethlehem mit dem Auftrag, nach dem «Kindlein» (Jesus) zu suchen. «Und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete». Die Landschaft im Hintergrund – die mit Bethlehem wenig zu tun hat, sie kommt eher europäisch daher – ist in den drei Bildteilen übergreifend.

 

Der Flügel links zeigt den heiligen Jacobus. Er ist eine wichtige Figur aus dem Neuen Testament und zählt zum Kreis der «erstberufenen Jünger», die Jesus besonders nahe standen. Heute ist er Schutzpatron Spaniens und vor allem der Pilger, die den Jakobsweg bewandern. Sein Wahrzeichen ist die Jakobsmuschel. Mehr über den >Heiligen Jacobus

Der Flügel rechts zeigt den heiligen Sebastian. Er ist in diesem Gemälde eher ungewöhnlich dargestellt. Die meisten Künstler malen ihn mit Pfeilen im nacktem Oberkörper. Provost weicht von dieser «Norm» ab, er bildet den Heiligen zwar auch mit Pfeilen ab, aber als Pfeilschütze und nicht als gepeinigtes Opfer. Mehr über den >Heiligen Sebastian

 

Über den Künstler Jan Provost ist nur wenig bekannt. Sicher ist, dass er ein flämischer Maler war, der 1493 in die >Lukasgilde Antwerpen eintrat und 1529 in Brügge starb. Sein Geburtsjahr dagegen ist unsicher (1462 oder 1465). Auch ob dieses Werk von Jan Provost stammt, ist unsicher – früher wurde es Jan Mostaert (1470-1556) zugeschrieben.

 

>mehr über Jan Provost

 

David Teniers II (1610-1690). Dorfkirmes, 1646. Sammlung Bührle, Kunsthaus Zürich.

 

Detail Tanz.

 

Detail Gelage.

 

Detail Tor/Kirche.

 

Detail Still.

 

 

>Details (PDF)

7. Mai 2024, Referentin Andrea Sterczer

David Teniers II (1610-1690). Dorfkirmes, 1646.

 

Warum heisst er Teniers II? Weil er aus einer Künstlerfamilie stammt. Schon sein Vater war Maler – und sein wichtigster Lehrer. Dieser bekam den Namen «Teniers der Ältere» (1582-1649). Teniers II ist folglich der Jüngere (1610-1690). Er kommt in Antwerpen zur Welt und malt Porträts, Historienbilder, Landschaften und Stillleben. Bekannt ist er auch für seine Bauernszenen, die Feste und Trinkgelage zeigen und einen Einblick in das damalige Gesellschaftsleben auf dem Land geben.

 

Teniers II ist zeitlebens sehr produktiv und mit seiner Malerei erfolgreich. Verheiratet ist er mit der Tochter von >Jan Brueghel d.Ä., Anna Brueghel. Mit ihr hat er einen Sohn, David Teniers III (1638-1685), auch Maler, aber nicht so erfolgreich wie sein Vater. 1651 wird Teniers II als Hofmaler nach Brüssel berufen, zu Erzherzog Leopold Wilhelm. Dort malt er nicht nur, sondern wird auch Kurator der bedeutenden Kunstsammlung Leopolds. Für diesen begutachtet und kauft er hunderte von Werken für die Sammlung. Viele davon sind heute im >Kunsthistorischen Museum Wien zu sehen. Teniers II ist für seine Eitelkeit bekannt. Er soll zeitlebens versucht haben, zu einem Adelstitel zu gelangen. Das gelingt ihm nie, aber immerhin schafft er es zu einem Landsitz, was normalerweise nur Aristokraten zusteht.

 

Auf den ersten Blick zeigt das besprochene Bild eine bäuerliche Festszene, eine Dorfkirmes, wie der Titel verrät. Mit Trinkgelage, Tanz und Raufereien. Aber das Gemälde enthält mehr: Zum Beispiel auch ein grossartig gemaltes Stillleben (unten links) mit Holzzuber, Fass, Tonkrügen, Karafe und einem leuchtenden Messingtopf – alles wunderbar detailliert ausgearbeitet.

 

Das Bild beinhaltet aber auch eine nicht auf Anhieb erkennbare Aussage: Das Holztor stellt die bäuerliche Gesellschaft vor die Entscheidung, ob sie sich nach hinten für den Gang zur Kirche entscheidet – was für brave Bürger angesagt wäre – oder eher für den Weg nach rechts zur Taverne. Das Ergebnis scheint klar: Ein Paar geht zur Kirche, die grosse Mehrheit hat sich für die Taverne und für das Trinkgelage entschieden.

 

Im Aufbau entspricht das Gemälde der niederländischen Tradition mit der Aufteilung zwei Drittel Himmel, ein Drittel Vordergrund. In einem Punkt weicht es aber von dieser «Tradition» ab: Normalerweise wird die Bewegung im Bereich des Himmels dargestellt (z.B. mit vorbeiziehenden Wolken oder mit Gewittern); hier findet die Bewegung (Tanz, Raufereien) im unteren Bildteil statt.

 

Augusto Giacometti (1877-1947). Phaëton im Zeichen des Skorpions, 1911. Kunsthaus Zürich.

 

Detail.

 

Augusto Giacometti (1877-1947). Fixsterne, um 1908. Kunsthaus Zürich.

 

Detail.
 

 

>Details (PDF)

30. April 2024, Referent Reto Bonifazi

Augusto Giacometti (1877-1947). Phaëton im Zeichen
des Skorpions, 1911. / Fixsterne, um 1908.

 

Mit diesen Gemälden bewegt sich der Künstler auf einem Gebiet, für das er eine besondere Schwäche hatte: Griechische Mythologie. Im ersten Werk, in dem Giacometti seiner anderen Leidenschaft frönt – der Zauberei mit den Farben – geht es um Phaëton.

 

Es ist ein Thema, das in der Kunst oft behandelt wird. Meistens wird der Sturz des Phaëtons gemalt. Bei >Augusto Giacometti ist das anders. Er bezieht sich auf einen anderen Sagenkreis, der vom römischen Dichter Ovid (43 v. Chr bis 17 n. Chr.) in seinem Hauptwerk, den «Metamorphosen», beschrieben wird:

 

Phaëton ringt seinem Vater Helios den Wunsch ab, einmal dessen Sonnenwagen steuern zu dürfen. Helios stimmt widerwillig zu. Phaëton beherrscht das Gerät aber nicht – als Sterblicher kennt er sich im Kosmos eben nicht so gut aus wie sein göttlicher Vater. Als die Pferde am Himmel den Skorpion entdecken und durchbrennen, droht eine Katastrophe: der stürzende Sonnenwagen könnte die Erde verbrennen. Das verhindert im letzten Moment der oberste Chef, Zeus. Er tötet Phaëton durch einen Blitz und rettet so die Erde. >mehr über Phaëton

 

Giacometti berauscht sich hier an den Farben. Ein tiefblauer Kosmos, die knallroten Pferde, der grün gesprenkelte Skorpion. Und der in orange gehaltene Phaëton bildet einen Komplementärkontrast zum blauen Hintergrund.

 

Auch im Gemälde Fixsterne hätte der Künstler wohl mit satten Farben spielen wollen, aber da ist etwas schief gelaufen. Augusto Giacometti malte das Bild in Florenz. Nach seiner Fertigstellung muss es noch kräftig leuchtend gewesen sein, aber mit der Zeit veränderten sich die Farben durch einen chemischen Prozess – sie wurden immer dunkler. Was man heute im Kunsthaus zu sehen bekommt, ist eine dunkle, düstere Leinwand, auf der kaum noch etwas zu erkennen ist.

 

Wie eine Schwarz-weiss-Foto (siehe >Details) aus alten Tagen belegt, enthält das Gemälde fünf Frauenfiguren, die die im Bildtitel erwähnten Fixsterne verkörpern sollen.

 

Interessante Hintergrundinfo: Das Kunsthaus datiert das Werk auf 1908. Im persönlichen Werkverzeichnis des Künstlers datiert er es dagegen selbst auf 1907 – und in einem Brief aus dem Jahr 1911 schreibt er, er «habe das Bild eben fertig gestellt». Daraus müsste man schliessen können, dass er (vielleicht) um 1907 damit begonnen und es 1911 vollendet hat. Möglich ist aber auch, dass der Künstler das Bild bewusst vordatiert hat – ein Grund dafür ist nicht bekannt.

 

Auch nicht bekannt ist, was für Farben der Künstler verwendete, die sich dann infolge eines chemischen Prozesses zu verändern begannen, und ebensowenig, wann die Abdunklung der Farben ihren Anfang nahm.

 

Marianne von Werefkin (1860-1938). Terrain à vendre, 1916. Kunsthaus Zürich.

 

Detail. Russenhaus Murnau?

 

Detail. Haus- besitzerin und Käufer?

 

Marianne von Werefkin(1860-1938). Autoritratto, 1893. Museo Communale Ascona.
 

 

>Details (PDF)

 

23. April 2024, Referentin Maya Karacsony

Marianne von Werefkin (1860-1938). Terrain à vendre, 1916.

 

Diese russische Künstlerin und ein Werk von ihr haben wir im Rahmen von Kunst über Mittag bereits am 24. Oktober 2023 besprochen >mehr

 

Im Alter von 28 Jahren (1888) erleidet Werefkin bei einem Jagdunfall eine Schussverletzung an der rechten Hand, die sie zeitlebens bei der Malerei beeinträchtigt. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 muss sie zusammen mit >Alexej Jawlensky Deutschland verlassen.

 

Die beiden finden ihr erstes Exil am Genfersee, in St. Prex; dann 1916 in Zürich, wo Werefkin eine Einzelausstellung erhält und in Kontakt mit den Zürcher Dadaisten kommt. 1918, bereits 58jährig, lässt sie sich in Ascona nieder, wo sie Mitgründerin des >Museo Communale wird und diesem einige ihrer Werke schenkt.

 

Auch das besprochene Werk Terrain à vendre ist ein Geschenk der Künstlerin – diesmal ans Kunsthaus Zürich. Es entstand 1916, wurde also vermutlich im Exil in St. Prex gemalt. Darauf deutet auch der abgebildete Rebberg hin, der für diese Gegend typisch ist. Das farbstarke Gemälde gibt Rätsel auf. Welche Geschichte erzählt es? Es lässt Raum für viele Interpretationen.

 

Die Hauptaussage ist «Terrain zu verkaufen». Ist das wörtlich zu nehmen oder ist es eine symbolistische Aussage der Künstlerin, die zuerst ihre russische Heimat und dann ihren bisherigen Wohnort in München verlassen musste und jetzt im Exil lebt und deshalb ihr «Terrain» verkaufen muss? Das grüne Haus könnte eine Anlehnung an ihre Zeit in München sein, oder wohl eher an das oberbayrische Murnau, wo sie sich jeweils im «Russenhaus» mit Gabriele Münter traf? >mehr

 

Das Gemälde strahlt eine gewisse Wehmut an die guten Zeiten aus. Immerhin stammt die Künstlerin aus gehobenen Kreisen und muss jetzt (ab etwa 1916) im Exil versuchen, mit eigenen Mitteln über die Runden zu kommen. Es ist ein Wendepunkt in ihrem Leben – ohne die regelmässige Rente, die sie vor der >russischen Revolution von ihrem Elternhaus erhielt, und die ihr ein komfortables Leben ermöglichte.

 

Werefkin ist in einer schwierigen Phase ihres Lebens. Das könnte den morbiden Eindruck erklären, den das Werk ausstrahlt. Eine düstere Stimmung mit düsteren Gestalten, beobachtet von einem schwarzen Raben auf dem Pfahl – wie auf einem Friedhof. Dazu die Malweise: die farbigen Flächen sind von schwarzen Konturen umgeben (Cloisonismus), wie man das von Paul Gauguin kennt.

 

>mehr über Marianne von Werefkin

 

Joachim Patinir (1475-1524) und Werkstatt. Landschaft mit dem Hl. Hieronymus, 1520. Kunsthaus Zürich, Ruzicka-Stiftung.

 

Detail Kloster.

 

 

Detail Eremit.

 

 

Detail schlafender Löwe.

 

>Details (PDF)

16. April 2024, Referent Daniel Näf

Joachim Patinir (1475-1524). Landschaft mit hl. Hieronymus, 1520.

 

Patinir ist ein flämischer Maler. Über sein Leben ist nur wenig bekannt. Er kommt 1475 in Antwerpen zur Welt und wird Mitglied der dortigen Lukas-Gilde, einer Art Malerzunft. 1520 begegnet er Albrecht Dürer. Diesem leiht er Malfarben aus und erhält dafür von Dürer eine Zeichnung und Stiche.

 

Patinir ist dafür bekannt, dass er eine neue Art von Landschaftsbildern einführte. So genannte Weltlandschaften. Darunter versteht man Bilder bzw. Kompositionen von erfundenen Landschaften, Bergen, Wäldern und Städten. Diese Kompositionen malte er im Atelier. Als Vorlagen für seine «Berge» soll der Künstler Felsbrocken verwendet haben. Typisch für diese Weltlandschaften ist, dass sie einen sakralen Hintergrund haben. Reine Landschaftsbilder ohne biblischen Inhalt kamen erst rund ein Jahrhundert später auf.

 

Das besprochene Bild ist klein – es misst nur 25 x 34 cm. Kleine Bilder sind typisch für die flämische und generell «nördliche» Malerei. Sie sind deshalb so klein, weil sie von der Buchmalerei her stammen. Die kleinen Gemälde dienten oft als private Andachtsbilder.

 

Das Bild ist in mehrere Schichten unterteilt: im Vordergrund der heilige Hieronymus in seiner Klause; im Mittelteil die Berge und im Hintergrund eine Seenlandschaft. Diese ist in einem Blau-Grau-Dunst gehalten, um Raumtiefe zu erzeugen.

 

Das Gemälde enthält mehrere Geschichten parallel dargestellt. Der
>heilige Hieronymus
war ja nicht nur Eremit (hier in seiner Felsenklause dargestellt), er war auch Klostergründer (in Betlehem gründete er drei Nonnenklöster und eines für Mönche), weshalb das Gemälde auch ein Kloster enthält. Auch die berühmte «Geschichte mit dem Löwen» ist im Bild angesprochen, rechts unten. Zu erkennen ist der schlafende Löwe, der eigentlich den Esel bewachen sollte. Dieser wird dann gestohlen und die Mönche werfen dem Löwen vor, den Esel gefressen zu haben. Schliesslich wird er rehabilitiert und alles löst sich in Minne auf.

 

>mehr über Hieronymus und die Geschichte mit dem Löwen

 

Ljubow Popowa (1889-1924). Kubistische Stadtlandschaft, 1914. Sammlung Merzbacher, Kunsthaus Zürich.

 

Detail.

 

Detail.

 

Ljubow Popowa (1889-1924). Sitzender weiblicher Akt, kubistisch, 1914. Museum Ludwig, Köln.

 

 

>Detail (PDF)

9. April 2024, Referentin Andrea Sterczer

Ljubow Popowa (1889-1924). Kubistische Stadtlandschaft, 1914.

 

Popowa gehört zur Gruppe der russischen Avantgardisten, die in Paris die neuesten Entwicklungen in der Kunst studierten. Sie wird 1889 auf einem Landgut in der Nähe von Moskau geboren und gehört einer wohlhabenden Familie an. 1907/08 erhält sie ihre Ausbildung im Privatatelier von Stanislaw Schukowski und Konstantin Juon in Moskau. 1912 unternimmt sie mit Nadeschda Udalzowa eine Studienreise nach Paris. Mit Wladimir Tatlin hat sie 1913-1916 eine Ateliergemeinschaft und arbeitet auch mit den französischen Künstlern >Jean Metzinger und >Henri Le Fauconnier an der Académie la Palette am Montparnasse, wo sie sich mit Kubismus befasst. 1914 kommt sie mit dem italienischen >Futurismus in Kontakt. Im >Manifest des Futurismus von 1910 geht es um die Verherrlichung des Krieges und auch um die «Schönheit der Geschwindigkeit». Diese wird von den italienischen Avantgardisten meist in Form von rasenden Fahrzeugen dargestellt, Popowa möchte die Bewegung aber auch in Gegenständen und in abstrakten Formen darstellen.

 

1914 nimmt sie in Moskau und St. Petersburg an einer Reihe von Ausstellungen teil, die für sie den Durchbruch zur gegenstandslosen Kunst bedeuten. Kurz darauf besucht Popowa Samarkand (Usbekistan) und trifft dort auf architektonische Meisterwerke zentralasiatisch-islamischer Kultur. Dieses Erlebnis bringt sie zur architektonischen Malerei.

 

Nach der >russischen Revolution von 1917 schwächt sich ihre Begeisterung für avantgardistische Kunst stark ab. Wie viele russische Künstler – zum Beispiel auch >Kasimir Malewitsch – glaubt auch Ljubow Popowa, dass eine revolutionäre Gesellschaft eine neue künstlerische Sprache verlangt.

 

Sie stellt sich ganz in den Dienst der Revolution und entwirft in der staatlichen Textilfabrik Moskau Kostüme und Kleider für die Arbeiterklasse. Sie geht auch mit der Bourgoisie auf Distanz und setzt auf Produktions-, Propaganda- und Gebrauchskunst. Ab 1922 widmet sie sich dem Textil- und Grafikdesign und entwirft Theaterkulissen. 1924 stirbt ihr kleiner Sohn infolge einer Scharlach-Epidemie, sie selbst stirbt daran vier Tage später und wird nur 35 Jahre alt.

 

Im besprochenen Bild von 1914 «Kubistische Stadtlandschaft» fliessen Popowas Erlebnisse mit der Architektur von Samarkand ein. Obwohl das Werk im wesentlichen eher ungegenständlich ist, sind doch einzelne Elemente von Moscheen und Treppen zu erkennen.

 

Es ist ein Gemälde, in dem sich Statik und Dynamik die Waage halten. Im Zentrum dominiert ein stabiles Viereck, aber rund herum sind Muster von Bewegung zu erkennen, z.B. die Treppe in Pfeilform oder diverse schwebende Farbflächen.

 

Der im Bild erkennbare Schriftzug, auf den ersten Blick als OBI zu lesen, heisst CBb, da es sich um kyrillische Buchstaben handelt. In lateinische Buchstaben übersetzt also SWw. Was die drei Buchstaben bedeuten, war allerdings nicht herauszufinden.

 

Augusto Giacometti (1877-1947). Adam und Eva, 1907. Kunsthaus Zürich.

 

 

Evas Äpfel?

 

Goldene Ornamente
der Schlangenhaut.

 

Adam und Schlange.

 

 

>Details (PDF)

2. April 2024, Referent Reto Bonifazi

Augusto Giacometti (1877-1947). Adam und Eva, 1907.

 

Nur von wenigen Künstlern kann man sagen, dass sie Werke schufen, die «zeitlos» sind und «ewig» bleiben, mithin «grosse Kunst» – Augusto Giacometti gehört dazu.

 

Sein Gemälde «Adam und Eva» ist an den Jugendstil angelehnt. Das verschlungene Paar ist in zwei Horizontalen und einer Senkrechte dargestellt, Ausdruck des Irdischen. Dazu eine Diagonale (Adams Arme), die Bewegung andeutet. Das Bild strahlt eine zurückhaltende Erotik aus. Was hier im Vergleich zu den üblichen Adam-und-Eva-Abbildungen fehlt, ist der «verbotene Apfel». Oder doch nicht? Könnten Evas Brüste den Apfel verkörpern? (In der Bibel kommt der Apfel zwar nicht vor – hier ist nur von den «Früchten des Baumes» die Rede).

 

Welche Aussage verbirgt sich hinter dem quadratischen Format des Bildes? Das Quadrat verkörpert die vier Himmelrichtungen (=das Irdische). Dem gegenüber steht der Kreis, den der Künstler hier als Schlange darstellt. Der Kreis steht gemeinhin für die Vollkommenheit und die in sich ruhende Ewigkeit ohne Anfang und ohne Ende, mithin das Göttliche.

 

Im biblischen >Sündenfall (Genesis, 1. Buch Mose, Kapitel 3) wird die Schlange als listig und verführerisch beschrieben. Sie ist es, die mit ihrer Verführung den Menschen die Augen öffnet, damit diese zur Erkenntnis gelangen, was gut und was böse ist. In der Bibel verflucht Gott die Schlange für ihr Tun ("Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstossen aus allem Vieh und alle Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang").

 

Der Künstler Augusto Giacometti sieht die Schlange aber nicht als das Böse. Er malt sie vielmehr mit goldfarbigen Ornamenten. Schon seit dem Mittelalter steht das Gold für Himmlisches (z.B. Ikonen). Mit der Verwendung von Goldfarbe weist der Künstler der Schlange einen Anteil an der göttlichen Welt und letztlich auch an der Schöpfung zu: Weil die Schlange es ist, die aus dem Menschen – im Gegensatz zu den Tieren – ein denkendes (und damit auch schöpfendes) Wesen macht.

 

Auch Adam scheint in diesem Werk die Schlange nicht als teuflisch zu sehen – im Gegenteil: Er kommuniziert mit ihr Aug' in Auge.

 

>mehr über die Giacometti-Künstlerfamilie

 

>mehr über Augusto Giacometti

 

Pierre Bonnard (1867-1947).
Le Toit rose, 1899.
Kunsthaus Zürich.

 

Detail.

 

Pierre Bonnard (1867-1947). Soleil couchant, 1912. Kunsthaus Zürich.

 

Pierre Bonnard (1867-1947). Paysage au soleil couchant (Le Cannet), 1927. Kunsthaus Zürich.

 

 

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26. März 2024, Referentin Gabriele Lutz

Pierre Bonnard (1867-1947). Le Toit rose 1899.
Soleil couchant 1912. Paysage au soleil couchant 1927.

 

Pierre Bonnard stammt aus Fontenay-aux-Roses bei Paris. Er studiert zuerst Rechtswissenschaft an der Sorbonne, dann Kunst an der Académie Julian und an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Als 21-Jähriger gründet er 1888 zusammen mit den Malerkollegen Maurice Denis, Paul Sérusier und Edouard Vuillard die Künstlergruppe der >Nabis. 1911 eröffnet er sein eigenes Atelier im Pariser Künstlerhaus Les Fusains, das er bis an sein Lebensende behält, obwohl er ab 1926 in Südfrankreich – in Le Cannet an der Côte d'Azur – ein Haus besitzt, wo er sich auch während des Zweiten Weltkriegs aufhält. >mehr über Pierre Bonnard

 

Gärten sind für ihn ein wichtiges Motiv – er sieht sie als eine Art von Sehnsuchtsort für seine ganze Familie. In seinen späteren Jahren malt er dann mit Vorliebe Landschaften. Im Werk von 1899 Le Toit rose verknüpft er das familiäre «Gartenleben» mit griechischer Mytologie und lässt seine Figuren wie Faune auftreten – obwohl es seine eigenen Kinder sind. Auch seinen Hund baut er ins Gemälde ein. Die von der Künstlergruppe der Nabis praktizierte flächenbetonte (=japanische) Malweise verlässt er in diesem Werk bereits wieder – es weist durchaus Tiefe auf.

 

Im Gemälde Soleil couchant von 1912, entstanden in der Gegend von Giverny, wo Claude Monet seine Seerosen malte, bettet er seine Croquet spielenden Kinder ein. Dabei übernimmt er für die drei kleinen Figuren den Farbton des Himmels beim Sonnenuntergang und bei der unteren Figur jene des Weges. Bonnard ist kein Plein-air-Maler. Er macht bei seinen Spaziergängen Skizzen der Landschaft und fertigt dann die Gemälde im Atelier. Er ist auch dafür bekannt, dass er diese Skizzen stets mit Notizen über die Wetterlage versieht. Pierre Bonnard ist auch kein Verfechter der >Zentralperspektive. Vielmehr vertritt er den Standpunkt, dass ein Maler die Landschaft so darstellen solle, wie «sein Auge» sie sieht, heisst: Das Auge erfasst nicht die fixe Perspektive, sondern ist ständig in Bewegung.

 

Das Gemälde Paysage au soleil couchant von 1927 ist ein Spätwerk – Bonnard ist da bereits 60. Einer der beiden Figuren im Gras könnte eventuell den Künstler selbst darstellen.

 

Nach seinem Tod am 23. Januar 1947 (er starb in seiner Villa Le Bosquet in Le Cannet) fand noch im gleichen Jahr im >Musée de l'Orangerie in Paris eine Retrospektive statt. Obwohl er als Künstler grosse Anerkennung fand, gab es auch Kritiker. Einer davon war der Verleger Christian Zervos, der Bonnards Kunst heftig kritisierte. Ein anderer war Pablo Picasso, der sagte: «Bonnard ist in Wirklichkeit gar kein moderner Maler: Er unterwirft sich der Natur, er geht nicht über sie hinaus». Zu diesen Kritiken nahm Bonnard wie folgt Stellung: «Ich möchte vor jungen Malern des Jahres 2000 mit Schmetterlingsflügeln ankommen».

 

Gabriele Münter (1877-1962). Sonnenuntergang über dem Staffelsee, 1910-11. Sammlung Merzbacher, Kunsthaus Zürich.

 

Gabriele Münter (1877-1962). Sonnenuntergang über dem Staffelsee, 1910-11.

 

Detail.

 

Selbstbildnis vor der Staffelei, 1909. Princeton University
Art Museum.

 

 

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19. März 2024, Referentin Maya Karacsony

Gabriele Münter, Sonnenuntergang über dem Staffelsee, 1910-11.

 

Gabriele Münter gehört zu den bekanntesten deutschen Expressionistinnen. Sie begann ihre Karriere in einer Zeit, als die Frauen noch keinen Zugang zu Akademien hatten. Also begab sie sich in München in eine Privatschule, die von >Wassily Kandinsky im Rahmen der Künstlervereinigung «Phalanx» geleitet wurde. Zwischen Münter und Kandinsky entwickelte sich ein Liebesverhältnis. 1903 verlobten sich die beiden. Weil er noch verheiratet war, hielten sie ihre Beziehung geheim. 1908 liessen sich die beiden in Murnau bei München nieder. Die beiden waren lange verlobt, zu einer Heirat kam es aber nie.

 

>mehr über die Beziehung zwischen Münter und Kandinsky

 

 

Münter war nicht nur eine talentierte Zeichnerin und Malerin, sie war auch Fotografin und veröffentlichte Ende des 19. Jahrhunderts das Fotobuch «Die Reise nach Amerika, Photographien 1898-1900». Das Buch wurde 2006 neu aufgelegt und enthält jetzt Fotos der Künstlerin aus den Jahren 1898-1916 (Katalog Lenbachhaus, Verlag Schirmer Mosel).

 

1911 war Gabriele Münter auch Mitbegründerin der bekannten Künstlergruppe >Der Blaue Reiter, dessen führende Köpfe Wassily Kandinsky und Franz Marc waren. Die beiden «Hauptgründer» fanden es aber nicht nötig, die Künstlerin in ihrem Almanach zu erwähnen – es wurden nur Texte von Männern abgedruckt.

 

1921 erfuhr Münter vom inzwischen verheirateten Kandinsky, dass er seine in Murnau belassenen Bilder zurück haben wollte. Nach einem längeren Hickhack willigte Kandinsky ein, ihr einen Teil seiner Bilder zu überlassen.

Zu ihrem 80. Geburtstag schenkte sie 1957 der Städtischen Galerie im >Lenbachhaus München ihre eigene umfangreiche Bildersammlung sowie zahlreiche Werke von Künstler:innen des Blauen Reiters.

 

Das besprochene expressionistische Bild zeigt eine Landschaft in extrem kräftigen und flachen Farben ohne Tiefenwirkung. Es besteht aus Farbflächen und weist keine Lichter auf. Es wurde zwar plein-air gemalt, aber weicht komplett von den natürlichen Farben ab. Ganz im Sinne ihres Lehrers Wassily Kandinsky, der dafür plädierte, «die eigene innere Empfindung expressiv auszudrücken». So entstanden geheimnisvolle Farben und eine Darstellung, die bereits in Richtung Abstraktion geht. Bedenkt man das Entstehungsjahr des Werkes (1911), wirkt es wegweisend für die nachfolgende Kunst des 20. Jahrhunderts.

 

 

>Werke in der Ausstellung «Gabriele Münter» 2022 Kunstmuseum Bern